„Bitte eintreten, liebe Weihnachtsstimmung!“

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Endlich war es soweit! Dieses Jahr galt es ernst. Schon lange hatte sie sich vorgenommen, den weihnachtlichen Zwängen zu entkommen, ihr eigenes Programm durchzuziehen. Aber bis jetzt hatte sie es nie geschafft. Seit Jahren war es ihr ein Dorn im Auge, wie der Geschenkewahn die Leute in der Adventszeit förmlich auffrass. Hatte man ihn über die Runde gebracht, kam der nächste Akt: der Heilige Abend. Selbstverständlich musste das traditionelle Menü auf den Tisch kommen, alle hatten glücklich auszusehen und das Programm sollte nahtlos gelingen. Als wäre das nicht genug, waren vor- und nachher sämtliche Weihnachtstage damit ausgefüllt, die liebe Verwandtschaft entweder mit einem Besuch zu beglücken oder bei sich einzuladen. Am Schluss war man buchstäblich vollgefressen, konnte keine Weihnachtsbäume mehr sehen und sehnte sich nur noch nach Ruhe. Davon hatte sie genug!

Dieses Jahr gab es eine „Weihnacht à la Isabel“, das hatte sie sich geschworen. Wie das aussah? Nun, so genau wusste es die junge Frau noch nicht. Auf jeden Fall hatte sie im Vorfeld die ganze Familie informiert, dass sie keine Geschenke machen und auch keine bekommen wollte. Zudem wussten alle, dass sie keinen Besuchsmarathon absolvieren würde. Für den Heiligen Abend hatte sie vorsorglich fein eingekauft, denn ein gutes Essen musste sein. Man konnte schliesslich auch geniessen, ohne sich mit einem üppigen Menü den Bauch zu verderben. Auch Musik hatte sie herausgesucht. Wobei: vielleicht würde ihr der Sinn mehr nach Fernseher stehen, das liess sie offen. Das Programm war für alle Fälle griffbereit. Selbst der Tradition machte sie ein Zugeständnis: ein kleines Weihnachtsbäumchen stand auf dem Stubentisch. Damit sie auf der sicheren Seite war, hatte sie es mit elektrischen Kerzen bestückt.
Soweit Isabel es beurteilen konnte, hatte sie vorgesorgt. Der Heilige Abend konnte also beginnen.

Während es langsam dunkelte, wurde Isabel immer unschlüssiger. Was sollte sie nun eigentlich konkret machen? Sie könnte vielleicht mit dem Kochen beginnen. Oder war es besser, zuerst ein bisschen Stimmung zu erzeugen? Irgendwie fehlte diese nämlich gänzlich. Ob Musik oder Fernseher helfen würden? Vielleicht sollte sie einfach mal den Weihnachtsbaum zum Leuchten bringen. Unschlüssig stand die junge Frau mitten in der Stube. Endlich konnte sie sich dazu durchringen, den Fernseher anzustellen. Sofort plätscherten ihr Weihnachtstöne entgegen. Doch anstatt in Stimmung zu kommen, wollten plötzlich Tränen in ihre Augen steigen. Was war nur mit ihr los? Irgendwie fühlte sie sich einsam und alleine und ein tiefer Jammer wollte sich ihrer bemächtigen. Und das ausgerechnet an IHRER Weihnacht. Sie verstand sich selbst nicht mehr und fragte sich, was sie denn eigentlich konkret erwartet hatte. Auch darauf wusste sie keine Antwort.
Während Isabel noch an dieser Frage herumstudierte, wurde es unvermittelt dunkel. Nein, das durfte doch nicht wahr sein! Schon wieder! In den letzten Wochen war die Stromversorgung des Ortes immer wieder unterbrochen worden. „Veraltetes System“, hiess es in den Medien, „Schlampereien“. Natürlich wollte niemand den Kopf hinhalten, jeder schob dem anderen die Schuld in die Schuhe. Die Sanierung würde teuer zu stehen kommen, also begnügte man sich vorläufig mit provisorischem Flickwerk. Zuerst wollte man einen Schuldigen finden, den man zur Verantwortung ziehen konnte. Nun ja, irgendwie war dies alles ja noch verständlich, weil sehr menschlich. Aber ausgerechnet an Weihnachten! Das war doch die Höhe!

Isabel fühlte sich nun so elend, dass sie es nicht mehr länger in der Wohnung aushielt. Sie schlüpfte in ihre Schuhe und den Mantel, dann verliess sie fluchtartig das Haus. Sie musste sich abreagieren, auf andere Gedanken kommen, sonst würde diese Weihnacht eher schrecklich ausfallen. Ziellos lief sie durch den stockdunklen Ort und versuchte krampfhaft, eine innere Ruhe zu finden. Nach einiger Zeit – wie lange sie schon unterwegs war, konnte sie nicht abschätzen – stand sie vor einem Wirtshaus. Gerade in diesem Augenblick begannen rings um sie herum die Lichter zu blinken und langsam wieder anzugehen. Offensichtlich hatte die Panne behoben werden können. Doch damit fühlte sich die junge Frau nicht erheblich besser. Dafür bemerkte sie jetzt, dass die Fenster des Restaurants vor ihr hell erleuchtet waren. Es schien, als hätte es sogar am Heiligen Abend geöffnet. Eine Ausnahme, wie Isabel wusste. Zum Glück hatte sie ein bisschen Geld bei sich. Vielleicht würde es ihr gut tun, hier einfach schnell einen Kaffee zu trinken, um wieder eine innere Ordnung herzustellen. Dabei konnte sie sich überlegen, was sie mit diesem angebrochenen Abend anfangen wollte.

Etwas zögerlich öffnete sie die schwere Tür. Sie war noch nie in dieser Gaststube gewesen. Man munkelte, dass sich hier der Abschaum des Ortes traf. Aber was soll’s! Eine bessere Lösung kam Isabel im Moment nicht in den Sinn, also betrat sie den hellen Raum. Viele Tische waren besetzt. Die meisten Gäste schienen sich zu kennen. Einige sassen in Gruppen beisammen, andere jedoch alleine. Im Hintergrund dudelte Weihnachtsmusik. Überall hingen Weihnachtskugeln und Lametta. Auf den Tischen standen brennende Kerzen. Die Stimmung wirkte sehr friedlich und gelöst. Gemessen am Ruf, eine schummrige Spelunke zu sein, fühlte es sich eigentlich erstaunlich gut an.

Innerlich ein bisschen ruhiger geworden setzte sich Isabel an einen leeren Tisch und bestellte sich einen Kaffee. Die Kellnerin brachte ihr das Gewünschte und legte sogar noch ein Weihnachtsgebäck dazu. Dieses war hausgemacht, das konnte man leicht erkennen. Das Äussere war nicht so perfekt, der Duft dafür umso köstlicher. Allmählich konnte sich die junge Frau entspannen und begann sogar, die Stimmung rund um sich herum zu geniessen. Verstohlen betrachtete sie die anderen Gäste und musste feststellen, dass diese eigentlich nicht so aussahen, als kämen sie direkt aus der Gosse. Wenn man es genau nahm, wirkte die ganze Szene im Grunde genommen völlig normal. In diesem Augenblick bahnte sich ein tiefer Seufzer aus Isabels Bauch seinen Weg nach oben. Das war es: Hier fühlte sie sich wohl, weil alles so erfrischend normal war. Dennoch gaben die weihnachtliche Dekoration und die Musik dem Ganzen einen festlichen Glanz. Dies geschah, ohne dass man sich darum bemühen musste, etwas Spezielles zu zelebrieren.

Jäh erkannte Isabel ihren Fehler: sie hatte irgendetwas Besonderes erwartet. Was es genau war, wusste sie nicht. Auf jeden Fall war dieses Etwas nicht eingetreten, womit sie völlig in ein Loch gefallen war. Wenn sie es genau betrachtete, hatte das Erwartete mit alten Gefühlen zu tun, die sie aus der Kindheit kannte. Aber damals war sie noch klein gewesen, hatte noch an Weihnachtsmänner und Wunder geglaubt. War es nicht etwas irr, diese Gefühle aufleben lassen zu wollen? Sollte sie sich nicht besser überlegen, was diese Heilige Zeit ganz grundsätzlich für einen Sinn hatte? Vielleicht würde sie dann eine Form finden, diesen besonderen Abend angemessen zu feiern.

Nachdenklich trank Isabel die Tasse leer. Sie wollte schon bezahlen, als plötzlich eine Gruppe von Leuten die warme Stube betrat. Man schien sich zu kennen, denn die Wirtin stellte die Musik ab. Sogleich begannen die Frauen und Männer, Lieder anzustimmen. Bald sangen einige Gäste mit. Auch Isabel konnte sich den Klängen nicht entziehen. Freudig stimmte sie in den Gesang ein. Jemand von der Gruppe las dann noch eine Weihnachtsgeschichte vor. Anschliessend wurden kleine Säckchen verteilt, gefüllt mit weihnachtlichem Gebäck und einer farbigen Kerze. Obwohl es nur ein kleines Geschenk war, vermochte es eine riesige Freude in Isabel auszulösen. Dadurch wurde es in ihr allmählich wieder hell und eine wohlige Wärme begann die innere Erstarrung zu lösen. Am liebsten hätte sie sich nun der Gruppe angeschlossen, um das eben gewonnene Wohlgefühl gleich weiter zu reichen. Zu sehen, wie die Gäste eine Zufriedenheit ausstrahlten, wie ihre Augen nach den wenigen Liedern leuchteten, fand Isabel nämlich wunderbar.

Plötzlich wusste sie, was an Weihnachten zu tun war: es ging nicht darum, wie ein Kind zu warten, dass eine Heilige Stimmung über sie kam. SIE SELBST war aufgerufen, etwas zu geben, einen Funken Freude in anderen anzuzünden. Diese Einsicht liess das innere Licht und die Wärme noch grösser werden. Das gab Isabel ein wunderbares Gefühl und sie fragte sich, ob dieses innere Glück vielleicht die neue Weihnachtsstimmung werden könnte. Mit einem Schlag klärten sich ihre Gedanken endlich vollends: schliesslich war Weihnachten die Geburt von Jesus. War dieser Grosse Meister nicht auf die Erde gekommen, um uns alle zu beschenken? Lag der Sinn von Weihnachten vielleicht darin, etwas von sich selbst zu geben? Dabei kam die gute und feierliche Stimmung nämlich ganz von alleine.

Endlich wusste Isabel, wie sie den restlichen Abend verbringen würde: Sie wollte jetzt nach Hause gehen, ihr Essen kochen, den Weihnachtsbaum beleuchten und ein bisschen Musik hören. Dazu würde sie Ideen sammeln, wie sie die Heilige Zeit im nächsten Jahr gestalten könnte. Ihr war nun wunderbar leicht ums Herz. Fast ein bisschen wehmütig verliess sie die Gaststube. Die Leute hier waren ihr in der kurzen Zeit irgendwie näher gekommen. Gemeinsam hatte man ein bisschen Weihnachten zelebriert und es hatte sich für alle gut und festlich angefühlt. So rief sie einen Abschiedsgruss in den Raum und bedachte die Anwesenden mit einem strahlenden Lächeln. Und siehe da: auf den Gesichtern, die schnell aufschauten, erschien nun ebenfalls ein solches Lächeln. Offensichtlich war der Glücksfunke, der Isabel aus den Augen strahlte, angekommen. „Fröhliche Weihnacht!“ fügte sie bei. „Fröhliche Weihnacht!“ schallte es ihr entgegen. Da erkannte die junge Frau: genau diesen Funken, den sie jetzt in den Augen einiger Gäste sah, wollte sie in den folgenden Jahren bei vielen Menschen entzünden. Von nun an sollte dies Weihnachten für sie bedeuten!