Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Schon seit geraumer Zeit waren die Tage kürzer und an den Bäumen hingen nur noch wenige Blätter. Es schien, als habe sich die ganze Natur für einen Winterschlaf vorbereitet. Obschon dies alle Menschen sahen, dachten nur wenige darüber nach. Schliesslich lief der Alltag wie gewohnt ab: Man ging zur Arbeit oder zur Schule, betätigte sich in Vereinen, verbrachte viele Abende vor dem Fernseher, plauderte mit Freunden und vieles mehr. Wäre da kein Kalender gewesen, in dem gewisse Tage rot hervorgehoben waren, wäre wohl das ganze Jahr so vorbeigegangen, lediglich unterbrochen durch die Ferien. Aber eben, der Kalender wies die Menschen regelmässig darauf hin, dass sie einzelnen Tagen eine besondere Bedeutung gegeben hatten, an die sie sich jeweils erinnern wollten. Dass wieder einmal so ein Tag bevorstand, wurde jedem deutlich, der einkaufen ging. In den Schaufenstern wurde viel Glimmer für die Dekoration verwendet. Sterne funkelten an allen Ecken und Enden. Überall verbreiteten elektrische Kerzen ihren milden Schein. Aus vielen Läden tönten einem neben gängigen Melodien aus der Hitparade bekannte Weihnachtslieder entgegen. So kamen auch Menschen, die sich im Vorjahr geschworen hatten, dem ganzen Weihnachtsrummel fern zu bleiben, nicht darum herum, sich von der Stimmung berühren zu lassen.

Ja, diese Stimmung! Nicht nur in den Läden wurde man damit konfrontiert, auch im Radio sprachen die Ansager vom bevorstehenden Ereignis. Ebenso gab es in den Zeitungen Weihnachtliches zu lesen. Viele Politiker wiesen zum Beispiel darauf hin, dass der Weltfrieden anzustreben sei. Es schien ein Anliegen aller zu sein, dass in der Adventszeit besonders aktiv darauf hin gearbeitet wurde. Doch nichts desto trotz herrschte an vielen Orten Krieg. Ist das nicht merkwürdig? Obschon man von allen Seiten vernimmt, der Friede sei mit aller Kraft anzustreben, setzt sich genau das Gegenteil durch: Die Menschen beschimpfen und beschuldigen sich, greifen einander an und bringen sich zu guter Letzt gegenseitig um.

An diesen Widerspruch scheinen wir Erdenbewohner uns gewöhnt zu haben, schenken wir ihm doch häufig nicht mehr viel Beachtung. Doch rund um uns herum existieren viele Dinge, die sich sehr wohl Gedanken darüber machen. Ja, auch Dinge können nämlich denken. Wir merken es nur nicht, weil wir von unserer Einzigartigkeit dermassen überzeugt sind, dass wir allem rund um uns herum höher entwickelte Qualitäten absprechen.

So geschah es einmal, dass sich das Geld auf der ganzen Welt über den Unfrieden unter den Menschen aufregte, ohne dass die Menschen selbst davon etwas wahrnahmen. Sie merkten auch nicht, dass sich einige Geldstücke und -noten aus Portemonnaies, Kassen und Tresors davonstahlen, um sich auf einer Weltgipfelkonferenz auszusprechen. Davon bekamen sie dann allerdings wenig später die Konsequenzen zu spüren. Doch das soll noch nicht vorweggenommen werden. Werfen wir erst einmal einen Blick auf die Gipfelkonferenz.

Beim Treffen der Geldstücke und -noten ging es sehr lebhaft zu. Man sah, dass viele Teilnehmer vor allem einmal ihrer Wut Ausdruck geben mussten, bevor überhaupt ein vernünftiges Gespräch möglich war. Schliesslich gelang es einem Fünfrappenstück, etwas Ordnung in die Konferenz zu bringen, so dass nacheinander alle Teilnehmer ihre Anliegen vorbringen konnten. Zornesrot begann eine Dollarnote: „Ich finde es schon schäbig! Wir geben uns alle Mühe, den Menschen zu helfen, sich zu einer gut funktionierenden Konsumgesellschaft zu entwickeln. Doch was machen diese Unwesen? Sie missbrauchen uns für Korruption, Geldwäscherei und ähnliches. Ich habe die Nase voll!“

„Genau“, ereiferte sich nun eine Pfundnote, die recht abgewetzt aussah. „Sie meinen, mit Geld könnte man auf einfache Art und Weise gerechten Handel betreiben. Das wäre ja auch richtig, aber was tun sie? Sie verkaufen zu übersetzten Preisen oder zerstören sich gegenseitig das Geschäft durch Unterbietung.“

„Ihr sagt es“, grollte ein Rubel, „aber wisst ihr, was ich am allerschlimmsten finde? Sie geben uns die Schuld an ihrem ganzen Leid. Ihr kennt ihn doch alle, den Spruch, dass es wegen des Geldes nur Unfrieden gebe. Da frage ich mich doch wirklich, was wir verbrochen haben, dass man uns diese Schuld zuschieben kann.“

„Ja, das ist der absolute Gipfel!“ empörte sich ein Fünffrankenstück. „Wisst ihr was? Am liebsten würde ich einmal für eine Weile verschwinden. Sollen sie doch sehen, wem sie dann den schwarzen Peter zuschieben wollen!“

„Das ist es!“ rief das vorsitzende Fünfrappenstück und bat die aufgeregt schwatzende Menge um Ruhe und Konzentration. „Wir hauen einfach ab, und zwar alle zusammen. Dann wollen wir sehen, ob wir Schuld sind an den Kriegen in der Welt. Wenn dies der Fall ist, müsste es den Menschen nach unserem Verschwinden gleich besser gehen. „Genau das tun wir!“ tönte es von allen Seiten.

Die Konferenz zog sich noch ein Weilchen hin, dauerte es doch mehrere Stunden, bis der ganze Plan entworfen war. Am Schluss gab es ein grosses Geklimper und Geraschel, als sich alle Geldstücke und -noten die Hände reichten. „Bis gleich“, riefen sie einander nach, „und nicht vergessen: mitmachen ist für alle Pflicht!“

Von dem Treiben wusste natürlich kein Mensch etwas. Doch am nächsten Tag ging ein Aufschrei durch die ganze Welt: Als die Menschen am Morgen ihre Portemonnaies, Kassen und Tresors öffneten, starrte ihnen gähnende Leere entgegen. Nirgends fand sich mehr das kleinste Geldstück. Jeder meinte natürlich sofort, ein Dieb habe ihn bestohlen und versuchte, die Polizei zu alarmieren. Weil die Telefonleitungen immer besetzt waren, machten sich die Empörten gleich selbst auf den Weg zum Polizeiposten. Welch ein Bild erwartete sie dort: Eine riesige Menschenmenge stand bereits vor der Tür der Kriminalpolizei. Die Gesichter der Versammelten wurden immer länger, als sie merkten, dass alle wegen der gleichen Sache hier waren: Ihnen fehlte das Geld.

„Gestern noch, ja, ich weiss, dass es stimmt“, ereiferte sich der Bankangestellte, „habe ich den Tresor vorschriftsmässig gesichert. Und heute? Er ist einfach leer!“ Verzweifelt bedeckte der Mann sein Gesicht mit den Händen. Was sollte nun aus ihm werden?

„Ja, ich bin auch ganz sicher“, schimpfte eine Geschäftsinhaberin, „die Kasse war gestern Abend einwandfrei verschlossen. Erstaunlicherweise gibt es keine Einbruchspuren. Zum Glück hatte ich das meiste Geld bereits auf die Bank gebracht!“ Kaum hatte sie dies gesagt, blickte sie den Bankangestellten entgeistert an. „Was haben Sie eben gesagt“, fragte sie heftig atmend, „kein Geld mehr im Tresor?“ Wie apathisch schüttelte der Mann den Kopf. Die Frau wurde bleich und wollte beginnen, ihm unschöne Beschuldigungen zuzuschreien. Doch sie kam gar nicht so weit, denn nun begann eine Stimme aus einem Lautsprecher zu erschallen.

„Bürgerinnen und Bürger, wir sind Opfer eines üblen Streichs geworden. Wir wurden von unbekannten Dieben bestohlen. Ich bezweifle zwar, dass diese Diebe wirklich unbekannt sind. Schon lange hege ich Zweifel an der Loyalität unseres Nachbardorfes. Waren die nicht schon immer eifersüchtig, weil unser Gewerbe so gut läuft? Wir werden sie wohl oder übel zur Rede stellen müssen. Sind sie nicht geständig, muss notfalls mit Gewalt vorgegangen werden. Denen zeigen wir schon, wer hier der Stärkere ist, wenn sie es unbedingt wissen wollen!“

Während sich in vielen Städten und Dörfern der Welt nach ähnlichen Szenen Minister, Präsidenten, Könige und andere Oberhäupter zu Verhandlungen vorbereiteten, begannen sich auch schon die Kriegsheere zu formieren. Alle waren sicher, dass man mit dem Schlimmsten rechnen musste. Wenn es um Geld ging, liess niemand mit sich spassen.

Doch welche Verwunderung in aller Welt, als bei den Verhandlungen auskam, dass allen das Gleiche widerfahren war. Zuerst glaubten es die einen den anderen nicht und liessen drohend ihre Militäreinheiten aufmarschieren. Doch bald gab es keinen Zweifel mehr: Auf der ganzen Welt gab es Geld mehr.

Nun war guter Rat teuer. Überall drohte das Chaos. In Produktionsbetrieben begannen sich bereits verschiedenste Erzeugnisse zu stapeln, die niemand kaufen konnte. Bald musste jedoch die Produktion selbst eingestellt werden, weil die Arbeitnehmer begriffen, dass sie nicht bezahlt werden konnten und folglich besser zu Hause blieben. Dort erwartete sie aber nur schlechte Stimmung, weil niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Überall neigten sich die Vorräte dem Ende zu und die Menschen hatten kein Geld, um sich Esswaren und andere Notwendigkeiten zu kaufen. Einige Verzweifelte und solche, die sich die Wirren zunutze machen wollten, begannen, andere zu bestehlen, so dass es zu unschönen Auseinandersetzungen und Schlägereien kam. Angesichts dieses Durcheinanders wurde überall der Notstand ausgerufen. Die Menschen bekamen alle für eine Weile Ausgangsverbot. In dieser Zeit hetzten die Staatsoberhäupter an eine Weltkonferenz, um einen Ausweg zu finden. Es war das erste Mal in der Menschheit, dass sich die unterschiedlichsten Menschen aus der ganzen Welt an denselben Tisch setzen, um sich miteinander zu beraten.

Die Mächte, die es gewohnt waren, den Ton anzugeben, begannen gleich, ihre Vorstellungen und Forderungen zu formulieren. Dabei wurde bedeutungslosen und ausgebeuteten Nationen bewusst, dass sie gar nicht mehr so arm waren. Im Gegensatz zu den grossen Mächten war es für die meisten von ihnen nämlich relativ einfach, die Menschen in ihrem eigenen Land, die bescheidene Verhältnisse gewohnt waren, mit dem Notwendigsten zu versorgen. Als dies die grossen Mächte bemerkten, wurden sie auf einmal sehr unsicher. Sie sahen ein, dass sie ihre Verhandlungstaktik ändern mussten. Nun waren sie nicht mehr tonangebend, sondern nur noch Teil einer Gemeinschaft, in der sich jeder mit ganz spezifischen Problemen konfrontiert sah. Erst jetzt war es möglich, konstruktive Diskussionen zu führen. Nach einem Tag harter Arbeit konnten wenigstens diejenigen Regelungen verabschiedet werden, die jeder Nation ein Überleben garantierten. Sofort wurden die Menschen in den Dörfern und Städten über die Beschlüsse informiert. Alle wurden aufgerufen, sich wieder zur Arbeit zu begeben. Der Einkauf von Nahrungsmitteln und anderen Notwendigkeiten wurde geregelt. Da erst minimale Vereinbarungen zwischen den verschiedenen Nationen getroffen worden waren, erhielten alle nur das, was sie zum Leben wirklich benötigten. Trotz dieser Einschränkungen atmeten die Menschen auf. Endlich gab es wieder eine gewisse Ordnung. Sie war zwar für die verwöhnteren Nationen etwas unbequem, garantierte aber zumindest eine minimale Sicherheit.

Das gemeinsame harte Los der Menschen blieb nicht wirkungslos. Viele Leute begannen zum Beispiel, gegen ihre eigentliche Gewohnheit, auf der Strasse und im Laden mit Personen zu sprechen, die sie nicht kannten. So erfuhr jeder die Geschichte des anderen und dass dieser ganz ähnliche Probleme hatte, wie man sie selbst kannte. Damit wuchs ganz langsam und unmerklich ein Stückchen Verständnis für die Andersartigkeit des Mitmenschen.

Ähnliches geschah bei den Weltkonferenzen. Hier bemerkten Staatsoberhäupter plötzlich mit grossem Staunen, dass ihre Verhandlungspartner zum Teil recht sympathisch waren und zudem gar nicht so anders wie sie selbst. Jeder war halt auf seine Vorteile bedacht, sah im Gespräch aber auch ein, dass er sich nicht auf Kosten anderer Nationen bereichern konnte.

Man kann sich denken, dass es während Tagen und Wochen überall recht wirr zuging. Menschen, die andere bestehlen oder übervorteilen wollten, wurden von der ganzen Gesellschaft mit Zorn und Empörung bedacht oder gar verjagt. Alle wussten: Diese Notsituation verlangte die Solidarität eines jeden, damit man nicht im Chaos endete. So wurden Verstösse gegen das Gesetz auf schnelle, einfache und unbürokratische Weise beseitigt.

Langsam begannen sich neue Strukturen zu bilden. Der Betrieb in der ganzen Welt begann ganz ordentlich zu funktionieren. Dabei waren alle Nationen so sehr mit ihren Problemen beschäftigt, dass es keiner in den Sinn gekommen wäre, kriegerische Aktionen zu starten. Zudem hatten die Menschen in ihrer Not bereits entdeckt, dass selbst Geschöpfe, die ein bisschen andersartig waren, keine Bedrohung sein mussten, dass man mit ihnen ganz normal sprechen und Freud und Leid austauschen konnte, und dass sie teilweise sogar sehr hilfsbereit waren. So verlief die Adventszeit zwar in etwas ungeordneten Bahnen, aber dennoch recht friedlich.

Die verschwundenen Geldstücke und -noten hatten die ganze Entwicklung gespannt aus ihrem Versteck heraus beobachtet. Einerseits freuten sie sich über den Erfolg ihrer Aktion, andererseits waren sie auch ein bisschen traurig. War es vielleicht doch ihre Anwesenheit, die Kriege verursachte? Es erschien ihnen sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Die ganze Aktion war von Anfang an als zeitlich begrenzter Versuch gestartet worden. Folglich musste man sich nun Gedanken darüber machen, wie es weitergehen sollte. Da es bereits auf Weihnachten zuging, waren sich alle einig, dass es wohl an der Zeit sei, den Versuch zu beenden und sich wieder unter die Menschen zu verteilen. Es war jedoch noch unklar, ob sich jede Münze und jede Note an ihren Herkunftsort zurückbegeben oder ob eine gleichmässige Verteilung unter alle angestrebt werden sollte. Schliesslich entschied man sich dafür, mit kleinen Korrekturen den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen.

Am Vortag des Heiligen Abends war es soweit: Alle Geldstücke und -noten hatten wieder ihre Posten in Portemonnaies, Kassen und Tresors bezogen. Es dauerte allerdings eine geraume Weile, bis dies die Menschen überhaupt merkten. Dann allerdings verbreitete sich die frohe Botschaft in Windeseile. Die anfängliche Freude wich aber bald einer grossen Ernüchterung: Wie wollte man nun weiterfahren? Schliesslich hatten sich ganz neue Systeme gebildet, die vorwiegend auf Tauschhandel basierten. Das Drucken neuer Geldnoten hatte man zwar stets versucht, jedoch mit dem Ergebnis, dass das neue Geld unter geheimnisvollen Umständen immer wieder verschwunden war. Wieder mussten sich die Staatsoberhäupter zusammensetzen und neue Wege finden. Und nun wurde sichtbar, welche Spuren die letzten Tage und Wochen hinterlassen hatten. Während früher der eigene Vorteil im Mittelpunkt gestanden hatte, suchten nun alle nach Möglichkeiten, unter Einbezug des Geldes eine gerechte und friedliche Welt zu schaffen. Ähnliches konnte auch in den Städten und Dörfern beobachtet werden: Die Menschen hatten gelernt, auf neue Art und Weise miteinander umzugehen. Wo früher der Egoismus vorgeherrscht hatte, bestimmte heute vermehrt die gegenseitige Akzeptanz das Zusammensein. Doch ob diese Wandlungen von Dauer waren?

Als am 24. Dezember die Bevölkerung über die Medien darüber informiert wurde, wie Handel und der Alltag in Zukunft gestaltet werden sollte, wurden die Menschen still und nachdenklich. Würde es ihnen wohl gelingen, das friedvolle Miteinander zu bewahren? Sie merkten, dass sie das erste Mal in ihrem Leben eine Weihnacht erlebten, an der sie einen Hauch von dem spürten, über das sie bisher immer nur gesprochen hatten. Sie erlebten ein Stückchen Frieden und Einigkeit in dieser Welt. Und das Schöne daran war: Sie brauchten kaum zugunsten anderer auf etwas zu verzichten, das ihnen wichtig gewesen wäre. Alle hatten genug und waren nach den eben gemachten Erfahrungen weitgehend damit zufrieden. Als an diesem Weihnachtsabend in vielen Teilen der Welt Kerzen angezündet wurden, ertönte aus vielen Häusern die altvertraute Melodie von „Stille Nacht“. Diesmal klang sie aber ein bisschen anders als in den Vorjahren, denn jetzt sangen die Menschen aus vollem Herzen, wohl wissend, welche Bedeutung die Worte hatten.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.