Das Jesusfigürchen

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Schon wieder stritten die Kinder. Es war nicht mehr zum Aushalten. Mutter Elisabeth hatte schon alles unternommen, um diese Streitereien einzudämmen, aber nichts hatte wirklich geholfen. Sie mochte einfach nicht mehr, fühlte sich müde und ausgelaugt. Ihr fehlte ein Mann, der sie stärken und in der Erziehung der Kinder unterstützen konnte. Ihre Ehe war vor drei Jahren in die Brüche gegangen und der Vater der Kinder weilte zurzeit im Ausland.

Eigentlich waren es liebe Kinder, aber sie schafften es einfach nicht, längere Zeit ohne Streit zusammen zu sein. Sie würde wohl wieder eingreifen müssen, sonst konnte das Geschrei noch lange dauern. Aber heute wusste sie wenigstens, wie sie die Kinder auf andere Gedanken bringen konnte.

Möglichst ruhig ging sie ins Kinderzimmer und trennte die Streithähne, die sich mit hochroten Backen anfunkelten.

„Hört“, sagte sie mit geheimnisvoller Stimme, „wenn ihr jetzt brav seid, dann machen wir etwas Schönes zusammen.“

Die Kinder horchten auf. Beat schaute die Mutter neugierig an und Dora fragte skeptisch: „Was machen wir denn?“

„Schaut“, meinte Elisabeth, „bald ist Weihnachten. Wir können bereits beginnen, schöne Dekorationen für die Adventszeit zu basteln und unser ganzes Haus weihnachtlich zu verzieren.“

Schon verzog Beat den Mund, denn er fand den Vorschlag nicht so umwerfend. Aber die Mutter liess ihm keine Zeit zum Maulen und fuhr gleich weiter.

„Erinnert ihr euch noch an letztes Jahr? Ich hatte eine Krippe aufgestellt, die euch so sehr gefiel. Dieses Jahr dürft ihr, wenn ihr jetzt schön brav seid, die Krippe selber aufstellen. Wir holen sie aus dem Estrich und ihr dürft alles haben, was es dazu braucht, um den Figuren eine schöne Umgebung zu gestalten.“

Schon hellten sich die beiden Gesichter auf und Beat wollte gleich losstürmen. Aber die Mutter hielt ihn noch zurück. „Zuerst machen wir ab, wer welche Figuren aufstellen darf. Dann dürft ihr beginnen.“ Um Streitereien vorzubeugen, schrieb die Mutter alle Figuren einzeln auf Lose, welche die Kinder ziehen konnten, was zum Glück ohne Widerrede akzeptiert wurde.

Und so kam es, dass es doch noch ein schöner und friedlicher Nachmittag wurde. Das Haus schien sich mit erwartungsfroher Energie zu füllen. Der Streit war für einmal vergessen. Konzentriert und freudig stellten die Kinder die Krippenfiguren zwischen Tannreisig und arrangierten sie so lange immer wieder neu, bis sie eine Form gefunden hatten, die beiden gefiel. Diese Eintracht war sehr ausserordentlich und direkt auffällig, aber die Mutter war einfach nur froh darüber und machte sich keine weiteren Gedanken. Sie hoffte, durch gemeinsames Guezli-Backen und andere Aktivitäten wenigstens eine einigermassen ruhige und friedliche Adventszeit gestalten zu können.

Der Friede hielt nicht lange. Bereits am nächsten Tag gingen die Streitereien wieder los. Dora kreischte wie am Spiess und Beat brüllte aggressiv und es schien nicht so, als ob sich das schnell wieder beruhigen würde. Beide konnten sich ganz schön in ihre Wut hineinsteigern, und dann waren sie schwer zu besänftigen. Doch unvermittelt hörte das Gebrüll auf. Daraufhin stoppte auch das Kreischen. Besorgt eilte Elisabeth ins Kinderzimmer. War etwas passiert? Doch beide Kinder standen unversehrt da und Beat flüsterte: „Still, seid still!“

Er schien angestrengt zu horchen und Dora spitzte nun auch die Ohren, um zu erfahren, was Beat gehört hatte.

„Hört ihr es nicht?“ flüsterte Beat. „Hier weint jemand ganz leise.“

Langsam ging Beat dem Geräusch nach und stand schliesslich vor der Krippe im Wohnzimmer. „Von hier kommt es“, zeigte er sich überzeugt. „Es ist dieses kleine Figürchen in der Krippe.“ „Du meinst das Jesuskind?“ fragte Dora. „Ja, das muss es sein.“ Nun meinte auch Dora, etwas zu hören, aber sie war unsicher. Auch Elisabeth horchte angestrengt. Doch sie konnte nichts wahrnehmen. Den Rest des Tages war es still im Haus. Beat machte ein nachdenkliches Gesicht und grübelte. Wenn ihn die Schwester ärgern wollte, sagte er einfach, er habe keine Zeit und wandte sich ab.

Tags darauf wiederholte sich eine ähnliche Szene und wiederum unterbrach Beat den Streit und horchte angestrengt. Schliesslich ging er zur Mutter und fragte: „Mama, wer ist eigentlich das Jesuskind?“

Da begann Elisabeth zu erzählen, wobei sie merkte, dass sie nicht sehr viel wusste. So versprach sie den Kindern, dass sie gleich am nächsten Tag in die Bibliothek gehen und Bücher holen würden. Und hier erfuhren Beat und Dora von der Geburt des Heilands, aber auch von den vielen Wundern, die Jesus getan hatte. Zudem lernten sie noch etwas Wichtiges: Jesus mochte keinen Krieg, keinen Streit. Er wünschte sich friedliche Menschen, die füreinander da waren und einander halfen.

Nun wollten die Kinder mehr über Gott wissen, schliesslich hatte dieser ja Jesus auf die Erde geschickt. Wiederum ging die Mutter mit den beiden in die Bibliothek und suchte nach entsprechender Literatur. Dabei stiessen sie auch auf Bücher mit Engeln, womit Dora gleich wissen wollte, was das für Wesen seien. Neugierig betrachteten die Kinder Bilder und liessen sich Texte vorlesen.

Und plötzlich war es ruhiger zu Hause. Elisabeth nahm sich viel Zeit, mit den Kindern den Advent zu zelebrieren und mit ihnen über Gott, Jesus und die Engel zu sprechen. Dora und Beat sogen dieses Wissen förmlich in sich auf, malten Bilder und spielten Engel. Es war fast nicht zu glauben, aber so friedlich wie in diesen Tagen war es in diesem Haus seit Monaten nicht mehr zugegangen.

Angeregt durch die Kinder hatte auch Elisabeth begonnen, sich mehr mit Geschichten über Jesus und verschiedene christliche Heilige auseinanderzusetzen. Fasziniert war sie vor allem von den Mystikern, welche in die Geheimnisse des Lebens einzudringen verstanden. Dabei erkannte sie, dass sie zu Gott nie wirklich eine Beziehung aufgebaut hatte. Ob es ihn überhaupt gab? Und Jesus? War er nicht nur eine Sagenfigur? Weshalb hatte Beat dieses Wimmern gehört, das offensichtlich von dem kleinen Jesusfigürchen ausgegangen war? Seither war es nie mehr aufgetreten. Aber der Bub war sich ganz sicher, dass er nicht geträumt hatte. Vielleicht würde es ja sogar Sinn machen, wenn man betete?

Eines Tages kam Beat ganz verstört zur Mutter und fragte: „Weiss Gott denn wirklich alles? Kann er mich immer sehen?“

„Aber sicher“, entgegnete die Mutter. Da begann Beat zu weinen. „Mama“, schluchzte er, „dann weiss er ja, wie eklig ich immer zu Dora war. Hat er mich denn trotzdem lieb?“

„Aber natürlich“, entgegnete die Mutter und erzählte die Geschichte vom verlorenen Sohn, die sie kürzlich gelesen hatte. Beat war sehr erleichtert und gelobte: „Jetzt will ich nie mehr mit Dora streiten. Gott soll Freude an mir haben!“

Elisabeth nahm ihren Sohn in die Arme und sagte: „Weisst du was? Wir wollen alle so leben, wie es Gott gerne hat. Er soll an uns allen Freude haben.“ Es war wie ein Versprechen, das sich die Frau selber gab. Und noch am gleichen Tag begann sie mit den Kindern zu beten. Sie erklärte ihnen, dass sie so mit Gott, Jesus und den Engeln sprechen könnten, dass diese immer bei ihnen seien und ihnen zuhören und helfen würden. Und gleich wollten die Kinder das selbst ausprobieren, womit die drei nun jeden Abend ein Gebet sprachen, das die Kinder selber formulierten.

Dies war wie der Beginn eines neuen Lebens. Die Beziehung zu Gott, zu Jesus und den Engeln öffnete der ganzen Familie eine neue Dimension und brachte eine ganz neue Stimmung ins Haus. Das Ganze wurde gekrönt von einer wunderschönen Weihnachtsfeier, die zum ersten Mal im Leben der Mutter und der Kinder einen tieferen Sinn bekam. Zwar gab es auch jetzt noch manchmal Auseinandersetzungen, aber die Kinder konnten meistens schnell eine Lösung finden.

Für die Mutter war es wie ein Wunder. Immer wieder betrachtete sie nachdenklich das Jesusfigürchen und musste daran denken, dass alles damit begonnen hatte. Von diesem unscheinbaren Holzpüppchen ausgehend hatte Beat ein Weinen gehört. Offensichtlich gab es auch heutzutage noch Wunder. Man musste sie nur sehen, und dafür waren Kinder wohl begabter als Erwachsene. Doch trotz aller Zweifel gelang es Elisabeth immer besser daran zu glauben, dass es im Universum eine Kraft gab, die wir Gott nennen. Seufzend musste sie aber zugeben, dass ein solch unbeschwerter Umgang mit den himmlischen Mächten, wie sie ihn bei den Kindern beobachtete, für Erwachsene wohl schwierig war. Aber jetzt, wo sie begonnen hatte, sich damit auseinanderzusetzen, würde sie fortfahren, nach Antworten zu suchen. Sie spürte, dass sie auf diesem Weg etwas finden würde, das für sie und die Kinder wichtig war, was immer es auch sein mochte.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.