Das Lebkuchenherz

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Friedlich stand das kleine Lebkuchenherz auf der Kommode und genoss schon seit einigen Tagen das Treiben rund um es herum. Zu sehen und zu hören gab es viel, denn die vier Studentinnen, die sich diese Wohnung teilten, waren häufig zu Hause. Besonders eine von ihnen verbrachte viel Zeit in ihrem Zimmer. Sie beschrieb dort Unmengen von Papier, zeichnete, bastelte und hörte dazu Musik. Das Lebkuchenherz hatte schon lange herausgefunden, dass es sich um eine Lehrerstudentin handelte, die ein Praktikum an der dritten Klasse vorbereiten musste. Es wusste, dass sie noch vor Weihnachten den Kindern einen Besuch abstatten wollte, um sich bei ihnen vorzustellen und sich mit der Situation vertraut zu machen, die sie dann bei ihrem Einsatz vorfinden würde. Natürlich war es ihr wichtig, mit den Schülerinnen und Schülern in einen guten Kontakt zu kommen. Eifrig sammelte sie deshalb Ideen.  Diese unterbreitete sie jeweils am Abend beim Essen ihren Kolleginnen, welche die Vorschläge ausführlich diskutierten. Das Resultat davon war meistens, dass die Lehrerstudentin ihre Ideen immer schlechter fand und sie schliesslich verwarf. Die junge Frau tat dem Lebkuchenherz schon leid, denn langsam begann die Zeit zu drängen und die Studentin wusste immer weniger, wie sie den Tag in der dritten Klasse gestalten sollte. Eines Abends rief eine der Studentinnen plötzlich: „Weshalb bringst du den Kindern nicht einfach solche Herzen mit und verzierst sie mit ihnen? Das macht doch allen Spass, passt gut zu Weihnachten und schmeckt erst noch herrlich.“

Alle blickten zum Lebkuchenherz. Dieses fühlte sich geschmeichelt, so plötzlich im Mittelpunkt zu stehen und erst noch Anstoss einer tollen Idee zu sein.  Die angehende Lehrerin betrachtete das hübsch verzierte Teigherz besonders nachdenklich. Dann atmete sie erleichtert auf und fand, dass dies wirklich ein brauchbarer Vorschlag sei, an dem sie weiter arbeiten könne. Alle waren froh über die Lösung, denn die abendlichen Diskussionen über immer dasselbe Thema empfanden sie langsam als mühselig. Allerdings hatten sie nicht mit dem Perfektionsanspruch ihrer Kollegin gerechnet, der nicht nur weitere Diskussionen, sondern auch noch eine wahre Lebkuchenschwemme mit sich brachte.

Auch das Lebkuchenherz konnte nicht ahnen, wie diese Idee sein friedliches Dasein verändern würde. Bereits am nächsten Abend stand es nämlich nicht mehr alleine auf seinem gewohnten Platz, sondern es war umgeben von weiteren Lebkuchengebilden, grossen und kleinen, viereckigen, runden, herzförmigen und anderes mehr. Sie alle waren in der Eile beim Grossverteiler besorgt worden. Um nun den weiteren Verlauf des Geschehens verstehen zu können, muss in der Folge etwas über die Herkunft des Lebkuchenherzens gesagt werden. Dieses war nämlich mit besonders viel Liebe entstanden: eine alte Frau hatte es für einen Basar für gemeinnützige Zwecke gebacken und anschliessend hübsch verziert. Die Schwester der Lehrerstudentin hatte es dann gekauft und letzterer geschenkt. Das Lebkuchenherz war also durch und durch handgemacht und wies deshalb auch einige Unebenheiten auf, welche einem maschinell hergestellten Lebkuchen fehlen. Natürlich unterschied es sich auch in den Zutaten von Massenware, enthielt es doch hochwertigen Honig, kaum Zucker, frisches Mehl, Eier und Gewürze. Diese Details mögen unwichtig er scheinen, wurden aber für unser Lebkuchenherz plötzlich zentral. Unter den Lebkuchen auf der Kommode war nämlich ein Machtkampf ausgebrochen. Jeder wollte der Schönste und Beste sein.

Von dem bekamen die Studentinnen allerdings nichts mit. Sie diskutierten einfach, welcher Lebkuchen für die Kinder der geeignetste sei. Diese Frage war gar nicht so einfach, denn die Lehrerstudentin wollte die Lebkuchen in eine Geschichte verpacken, so dass das Verzieren des Gebäcks nur noch Teil einer ganzen Unterrichtseinheit wäre.

Die Lebkuchen auf der Kommode wussten natürlich, worum es ging. Ihnen war klar, dass einer aus ihrer Mitte der Auserwählte sein würde, dem das Privileg zukäme, sich vielen Kinderaugen präsentieren zu können. Den Entscheid der Studentinnen warteten sie nicht etwa passiv ab, sondern jeder begann so gleich, mit seinen Vorzügen zu prahlen und zu begründen, weshalb er für die Schule wohl der geeignetste sei.

Auch das Lebkuchenherz liess sich nicht ins Abseits drängen und begann, seine inneren Werte aufzuzeigen: „Wisst ihr, dass in mir reiner Bienenhonig steckt und fast kein Zucker? Das Mehl, mit dem ich hergestellt wurde, ist frisch gemahlen. Mein Teig wurde von Hand geknetet, ausgewallt und …“

Höhnisch wurde es von einem rechteckigen Lebkuchen unterbrochen: „Des halb riechst du so komisch! Und schaut doch alle, wie es aussieht: seine Oberfläche ist nicht einmal glatt, oben hat es eine Beule und seine Verzierungen sind auch unregelmässig.“

„Das stimmt“, ereiferte sich ein runder kleiner Lebkuchen, der endlich seine Zeit gekommen sah, auf sich aufmerksam zu machen. „Zudem bist du sicher bereits ungeniessbar. Schau doch mich an! Mich kann man noch in einem Jahr essen. Backtriebmittel wie E501a und 503b machen meinen Teig locker, gleichzeitig bewirkt E420, dass ich schön feucht bleibe. Meine Zutaten sind frei von Unreinheiten. Mit meinem Teig kamen keine von Bakterien verseuchten Hände in Berührung, auch keine mit Hühnermist verschmierten Eierschalen. Bienenhonig ist sowieso total veraltet und wird heute durch Aromen und Geschmacksverstärker ersetzt. Du siehst ja wirklich wie ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert aus. Ich bin aber ein Produkt menschlichen Fortschritts und somit wohl besser für die Kinder der modernen Zeit geeignet.“

Bei dieser gekonnt gehaltenen Rede hatte es sogar den anderen Industrielebkuchen die Stimme verschlagen. Nun stimmten sie in das Hohngelächter ein.  In diesem Punkt waren sie sich wenigstens einig: das Lebkuchenherz war ja wirklich das Primitivste und wohl kein ernst zu nehmender Konkurrent. Weil nun jeder die Gewissheit auskostete, ein Produkt modernster Technik zu sein, wurde es vorübergehend ruhig, so dass die Lebkuchen der Diskussion der Studentinnen zuhören konnten.

„Weshalb bäckst du die Lebkuchen nicht selbst?“ fragte gerade eine der Studentinnen.

„Ja, mach das doch, ich helfe dir“, meinte eine andere.

Auch die dritte steuerte ihre Idee bei: „Ich habe ein wunderbares Rezept mit viel Honig.“

„Klar“, ereiferte sich die erste Studentin wieder, „am Samstag helfen wir dir alle, Lebkuchen zu backen. Und die da“ sie wies mit dem Kopf in Richtung Kommode „können wir alle verschenken, die sind nicht viel Wert.“

„Nein, das Lebkuchenherz in der Mitte behalte ich“, liess sich nun die angehende Lehrerin vernehmen, „ich nehme es als Beispiel mit. Es ist nämlich von Hand gemacht. So kann ich den Kindern zeigen, was alles möglich ist.“

Das war ein harter Schlag für die industriell hergestellten Lebkuchen. Das Lebkuchenherz dagegen, das sich eben von seiner Erniedrigung zu erholen begann, wusste kaum, wie ihm geschah. Wenn Lebkuchen weinen könnten, hätte es dies sicher getan, denn die plötzliche Freude war fast zu viel für das arme Herz. Noch vor kurzem hatte es sich mächtig wegen seinen einfachen Zutaten und seiner nicht ganz perfekten Oberfläche geschämt. Jetzt waren es ausgerechnet diese Eigenschaften, die es zum Sieger machten. Ihm dämmerte, dass es offensichtlich doch noch wichtigere Werte gab als eine perfekte Oberfläche sowie ein Innenleben, das noch nie mit Bakterien in Kontakt gekommen und folglich immer total steril und keimfrei gewesen ist. Ja, es war bestimmt kein perfektes Massenprodukt, sondern ein mit Fehlern behaftetes Einzelstück. Dafür war es mit viel Liebe hergestellt worden und bestand aus Zutaten, denen die volle Kraft der Natur anhaftete.

Durch diese philosophischen Überlegungen gewann das Lebkuchenherz lang sam wieder sein inneres Gleichgewicht. Nun konnte es endlich seinen Sieg voll und ganz geniessen. Zudem machte sich eine prickelnde Spannung bemerkbar: Bald würde es als Beispiel vor eine ganze Klasse gestellt und könnte die ganze vorweihnachtliche Freude der Kinder, die durch seinen Anblick ausgelöst würde, mitgeniessen. Und so wäre es ja direkt ein richtiger Weihnachtsbote, sinnierte das Lebkuchenherz weiter. Denn so viel hatte es aus den verschiedenen Diskussionen der Studentinnen gelernt: Weihnachten ist ein Fest, bei dem die Freude im Zentrum steht, da ihr die Kraft innewohnt, den Menschen die Herzen zu öffnen. Und dies sei in der heutigen Zeit wichtig, weil viele Menschen nicht mehr wüssten, wie sich ein offenes Herz anfühlt. Nun, solche Probleme hatte das Lebkuchenherz zum Glück nicht. Es war durch und durch Herz, ob es nun Weihnachten war oder nicht. Und dies wollte es auch bleiben. Weiterhin wollte es seinen verlockenden Duft verströmen und mit seiner liebevoll verzierten Oberfläche allen, die für seinen Anblick offen waren, Freude bereiten.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.