Das T-Shirt

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Ein Windstoss fuhr durch die Wäschestücke am Stewi und liess sie flattern. Je grösser sie waren, umso mehr wurden sie herumgezerrt. Für grosse Badetücher war dies eine Herausforderung. Sie ächzten gewaltig, wenn es allzu wild wurde. Doch das weisse T-Shirt mit dem aufgedruckten OM-Zeichen auf der Vorderseite genoss sein Dasein bis in die letzte Faser. War das nicht herrlich, sich so schwebend zu fühlen! Es vermittelte ein Gefühl von absoluter Freiheit. So schön konnte das Leben sein! Es musste sich ganz fest vornehmen, sich solche Momente gut einzuprägen. Das würde ihm sicher helfen, all die Zeiten zu ertragen, die weniger toll waren. Von denen gab es nämlich mehr als genug. Eine neue Windböe fegte durch den Garten. Jauchzend liess sich das T-Shirt aufblasen und legte einen richtiggehenden Tanz mit den Luftmassen hin, der einem den Atem nehmen konnte. Dabei war es sich seiner Anmut bewusst: sauber gewaschen erstrahlte es in herrlichem Weiss, roch wunderbar nach dem Naturduft des neuen Waschmittels und trug einen Aufdruck auf seiner Vorderseite, der eine äusserst wichtige symbolische Bedeutung hatte. So gesehen war es das wertvollste Wäschestück auf diesem Stewi. Übermütig liess es sich vom Wind umso mehr aufblähen und tanzte noch ein bisschen wilder, als es nötig gewesen wäre.

Ja, wenn ihm nur die entsprechende Achtung entgegengebracht würde, die es verdiente! Da haperte es teilweise gewaltig. Das begann schon bei der Trägerin des T-Shirts. Wenn man ein solches Kleidungsstück trug, sollte man doch aufpassen, wie man sich benimmt. Die vielen Kleckse, die es schon hatte einstecken müssen, waren eine Zumutung. Klar wurden sie bestmöglich entfernt, aber die entsprechenden Behandlungen glichen teilweise gröberen Rosskuren und taten dem zarten Stoff nicht gut. Zudem waren einzelne Flecken nicht ganz ausgegangen, worüber sich das T-Shirt ärgerte. Was es zudem die Höhe fand: nicht einmal für Gartenarbeiten zog sich seine Trägerin um. Es musste sich förmlich mit Erde und anderen Partikeln beschmutzen lassen, was sich doch wirklich leicht vermeiden liesse. Man stelle sich vor: nicht einmal die heilige Silbe OM schien genügend Eindruck zu machen, dass ihm gebührende Ehre zuteil wurde. Es war eine Schande!

Doch – im Grunde genommen – ging das alles ja noch. Viel mehr Sorgen bereitete ihm die Tatsache, dass an einigen Orten der Stoff schon ein bisschen dünn war. Was würde passieren, wenn dort Löcher entstanden? Es durfte sich gar nicht vorstellen, wie sein Schicksal aussehen könnte. Manchmal sah es in der Waschmaschine oder an der Wäscheleine Dinge, die es erschauern liessen.

Ja, das war auch so eine furchtbare Angelegenheit: die Waschmaschine! Man stelle sich dies vor! Da wurde einfach alles wild durcheinander gemischt. Seine Trägerin entbehrte jeglicher Ethik. Wie wäre es sonst möglich, dass es zusammen mit schmutzigen Unterhosen und stinkenden Socken in eine Trommel gestopft würde? Der Anfang war besonders schlimm. Wenn das T-Shirt Pech hatte, landete es hauteng neben einem dieser grässlichen Wäschestücke. Beim ersten Waschgang wurde der ganze Schmutz aus dem niedrigsten der niederen Geschöpfe herausgeschwenkt und ihm gerade vor die Nase transportiert. Dann war für eine Weile gar die ganze Trommel vergiftet, bis dann endlich die erste erlösende Spülung kam. Gegen Ende der Prozedur wurde es zum Glück immer besser und am Schluss – das musste das T-Shirt zugeben – war diesen niederen Wäschestücken nicht mehr anzumerken, dass sie so abscheuliche Arbeiten verrichtet hatten.

Wo waren diese Dinger jetzt überhaupt? Vor lauter Hochgefühl hatte das T-Shirt ganz vergessen, dass es sich ja auch weiterhin mit seinen Mitstreitern herumschlagen musste. Aber heute hatte es Glück. Es hing neben einem weiteren T-Shirt und auf der anderen Seite baumelte eine Hose. Ein richtig friedlicher Tag!

Doch leider nahte das Ende der Idylle. Der Wind hatte nämlich nicht nur sein Gutes. Dummerweise trocknete alles extrem schnell, womit der gefürchtete Augenblick kam: die Klammern wurden gelöst und alle Wäschestücke fein säuberlich aufeinander gelegt. Und wie könnte es anders sein: mitten auf das OM platzierte die Hausfrau ihre Unterhose sowie die Socken. Wie konnte sie nur! Lautstark machte das T-Shirt seinem Unmut Luft, worauf lediglich ein Kichern aus dem geblümten Stoff über ihm ertönte.

„Worüber regst du dich denn auf“, fragte die Unterhose arglos. Sie wusste ganz genau, was das T-Shirt von ihr hielt, provozierte aber gern ein bisschen.

„Womit habe ich es verdient, einen solchen Abschaum wie dich ertragen zu müssen? Du solltest eigentlich nur separat gewaschen werden, damit deine Bakterien nicht alles verpesten. Für uns anderen bist du eine Zumutung. Dass du dich nicht schämst, eine Unterhose zu sein!“

„Mein liebes T-Shirt“, meinte die Unterhose. „Unsere Herrin ist ein absolut sauberes und reinliches Geschöpf. Es ist mir eine Ehre, ihr dienen zu können. Nichts an ihr ist schmutzig. So wie die Poren Schweiss absondern, gibt es im Körper noch andere Stoffe, aber sie alle sind ein Wunder der Natur. Stell dir nur vor, wie die ganze Schöpfung funktioniert, so dass die vielen Lebensformen auf diesem Planeten existieren. Alles hat seinen Sinn, alles hat seine Funktion. Wenn ein einziger Saft im menschlichen Körper fehlt, ist dein OM für die Katz, dann ist unsere Herrin krank oder tot. So trage ich mit Würde mein Amt, im Wissen, dass es nicht weniger wichtig ist als dein heiliges Zeichen.“

Nun begannen sich auch die Socken über der Unterhose zu regen.

„Und was denkst du, was unsere Herrin ohne weiche Strümpfe machen sollte? Ihre Füsse tragen sie den lieben langen Tag durch das Leben und werden arg strapaziert. Ich sorge dafür, dass sie auf einem weichen Untergrund laufen kann. Dann ist alles schon ein bisschen weniger hart, fühlen sich anspruchsvolle Herausforderungen etwas einfacher an. Dank mir ist unsere Herrin stets sicher getragen und fühlt sich wohl. Damit bleibt sie gesund. Was hilft dein OM, wenn sie das Leben nicht meistern kann oder krank wird? Ich bin immer für sie da. Auch wenn es schwierig ist, ich lasse sie nie im Stich.“

Hoheitsvoll und mit einer guten Prise Verachtung in der Stimme wollte das T-Shirt zu einer eindrucksvollen Rede ansetzen. Es musste doch einfach einmal klipp und klar gesagt sein, was ein OM bedeutete. Wie konnten sich so minderwertige Wäschestücke auf die gleiche Stufe stellen wollen und behaupten, sie seien genau gleich wichtig. Doch o Schreck: die Stimme versagte plötzlich ihren Dienst. Kein Ton erklang mehr, alles war wie blockiert. Und nun verspürte das T-Shirt tief in sich ein ungutes Gefühl aufkommen. Voller Grauen erkannte es: jetzt konnte es schon noch über diese minderwertigen Geschöpfe lachen. Aber es nahm bereits die dünnen Stellen im Stoff wahr und bald würden dort kleine Löcher entstehen. Was geschah dann? Erst kürzlich hatte neben ihm ein alter Lumpen an der Wäscheleine gehangen. Er war der Rest eines zerschnittenen T-Shirts gewesen, der nun zum Putzen benützt wurde. Welche Schande! Es durfte sich gar nicht ausdenken, dass es eines Tages einfach in Lumpen zerteilt würde. Sein OM könnte es nicht davor bewahren, denn wenn das T-Shirt nicht mehr getragen werden konnte, war auch die Verzierung nicht mehr gefragt. Es würde von heute auf morgen zu Müll werden. Still und entsetzt erkannte es jäh, wie falsch und überheblich es bis jetzt gedacht hatte. Sein Glanz war nur oberflächlich und von begrenzter Dauer, dann müsste es sich mit einer anderen Funktion begnügen. Plötzlich bewunderte es die Unterhosen und die Socken, welche mit so viel Würde ihren Aufgaben nachkamen. Nie hatten sie gejammert. Immer hatten sie gedient, und zwar mit Hingabe. Würde ihm dies auch gelingen, wenn es einmal Fenster sauber putzen müsste? Es wusste nicht, ob es zu so viel Demut fähig war. Da gab es wohl noch viel zu lernen.

Plötzlich kam ihm eine eigenartige Szene in den Sinn. Damals war es draussen kalt gewesen und die Tage sehr kurz. Seine Herrin hatte gerade ihre alten Pullover ausgemistet. So war es endlich aus dem Kleiderschrank geholt worden und damit der elenden Einöde dieses finsteren Ortes entkommen. Während der ersten Zeit seiner Freiheit wurden sehr viele Kerzen angezündet. Dabei hatte das T-Shirt oft Angst gehabt, es werde angesengt. Zum Glück passierte nie etwas. An einem Abend brannten besonders viele Kerzen und die ganze Familie stand um einen Baum. Dabei wurden Geschichten von Jesus Christus erzählt, der ein grosser Meister für die Menschen geworden war. Er wurde aber nicht etwa als König geboren, sondern als armes Kind in einer Krippe in einem Stall. Obschon er eine solch grosse Seele war, blieb er bescheiden und widmete sein ganzes Leben den leidenden Menschen. Er wollte nicht ein Herrscher in einem Palast sein und in Prunk leben. Nein: er wollte einzig und allein den Kindern Gottes helfen. Hatte er dabei je mit seiner Grösse geprahlt? Hatte er sich je mit seinen Wundern oder Heilungen gebrüstet? Unvermittelt verstand das T-Shirt ganz tief: wirkliche Grösse besteht nicht darin, sich in äusserem Glanz zu sonnen. Es musste die effektiven Werte erforschen und den tieferen Sinn seines Daseins ergründen. Alles andere war für die Katz.

Plötzlich spürte das T-Shirt, wie eine tiefe Ahnung in seinem Innern auftauchte. Da war etwas, das es zu kennen schien, aber es konnte dieses Etwas noch nicht wirklich fassen. Doch nun wusste es wenigstens, wo es suchen musste. Die Unterhosen und Socken hatten ihm eine wichtige Lektion erteilt. Hier existierte etwas Zeitloses, Unvergängliches, das jenseits von allen äusserlichen Erscheinungen war. Egal, ob OM oder T-Shirt oder Putzlumpen: das, was sein wirkliches Sein ausmachte, war Teil einer anderen Dimension. Diese galt es nun zu ergründen.

Von tiefer Dankbarkeit erfüllte wurde es in der Folge ein stilles und angenehmes Wäschestück, das die anderen stets höflich behandelte. In sich selbst war es fortwährend auf der Suche nach diesem Ort, von dem es spürte, dass hier das Ende seiner Suche sein würde.

Plötzlich ergab dem T-Shirt auch das Wort „Christuslicht“ einen Sinn, von dem an diesem besonderen kerzenreichen Abend gesprochen worden war. Es musste diese innere Flamme sein, die bei ihm soeben aufgeglommen war und nun den Weg nach innen wies. Die einen spürten sie als Gefühl, die anderen nahmen sie als hellen Schein wahr – jeder hatte seine eigene Form. Was aber sicher war: alle Wesen trugen dieses göttliche Gut tief in sich geborgen. Wie ein Blitz schoss ihm ein weiterer Gedanke durch den Kopf: Hatte es vielleicht seinen persönlichen Heiligen Abend erlebt, nämlich die Geburt dieses Christuslichts in seinem Bewusstsein? Diese Idee gefiel ihm und es lächelte selig vor sich hin.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
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