Der Weihnachtsstern

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

„Hast du den Weihnachtsstern auch gegossen?“ rief die Mutter aus der Küche, der so herrlich süsse Düfte entströmten.

Ach je, dieses Gestrüpp von Tante Lisa! Jedes Mal vergass Karin den Topf, der einsam und verlassen mitten auf dem Wohnzimmertischchen stand. Kein Wunder, denn konnte man sich überhaupt etwas Langweiligeres vorstellen als eine Zimmerpflanze, die von unten bis oben einfach grün war? Gerade so gut hätte Karin von dem farbigen Herbstlaub, das sie in der Schule gepresst hatte, in einen Topf stecken können. Das wäre bestimmt eine grössere Zierde gewesen.

Ach, so unrecht hatte sie ja gar nicht, denn zu dieser Zeit waren die Weihnachtssterne tatsächlich alle nur grün. Lediglich die obersten Blätter erstrahlten in etwas hellerer Farbe und wirkten somit wie ein hellgrüner Stern. Aber Pflicht ist eben Pflicht, und was Mutter befahl, wurde mit Vorteil erledigt. Nach Weihnachten würde diese Pflanze zwar sowieso auf dem Kompost landen, aber bis dahin musste, sie halt gegossen werden. Missmutig schüttete Karin das letzte Restchen Wasser, das sich noch in der Giesskanne befand, in den Topf.

Durstig trank der Weihnachtsstern von dem lebensspendenden Nass. Er konnte sich jedoch kaum richtig sättigen. Traurig und matt liess er seine Blätter hängen. Seit er hier in diesem Raum stand, hatte er kaum je ein nettes Wort empfangen, von genügend Wasser konnte schon gar keine Rede sein. Nicht dass die Leute in diesem Haus schlecht gewesen wären, o nein. Oft erfüllten Lachen und Fröhlichkeit die Zimmer. Ja, gerade in letzter Zeit, da war es vielleicht etwas hektisch zugegangen. Die Leute rannten mit geheimnisvollen Gesichtern herum. Überall wurden glänzende Gegenstände aufgehängt und dauernd roch es so betörend nach allerlei Herrlichkeiten. Alles schien bis zum Bersten mit einer geheimnisvollen Energie aufgeladen zu sein, welche die Menschen ruhelos werden liess und ihnen glänzende Augen und rote Backen verlieh.

Wie nun jeder weiss, der schon mit Sprengpulver experimentiert hat, sind solch grosse Ansammlungen von Energie auch der Herd für gewaltige Explosionen. Ein zündendes Fünklein genügte, um eines der Familienmitglieder in helle Aufregung oder bitteren Zorn zu versetzen oder gar eine Flut von Tränen auszulösen. Der Weihnachtsstern kannte zwar den Grund für diesen seltsamen Zustand nicht. Er fühlte nur, dass etwas ganz Besonderes die Herzen der Menschen bewegte, etwas, das er nicht begriff, von dem er gänzlich ausgeschlossen blieb. Sein Los war es offenbar, einfach dahinzuvegetieren. Ach, wäre er doch wenigstens ein Weihnachtskaktus, so ein ehrwürdiger knorriger, wie er auf dem Fenstersims stand, mit prächtigen roten Blüten behangen! Auch als Zierpalme liess sich anscheinend gut leben. Der majestätischen Pflanze in der Zimmerecke schien es auf alle Fälle gut zu gehen. Oder die Stelle des zartblühenden Veilchens auf dem Büchergestell hätte der Weihnachtsstern auch gern eingenommen. Dieses wurde sorgfältig gepflegt und gedüngt, damit es möglichst oft die Augen der Menschen mit seinen herrlichen Blüten erfreuen konnte. Nur er war so langweilig, so überaus langweilig, einfach grün, von unten bis oben nur grün.

Die Blätter des Weihnachtssterns wurden gleich eine Spur blasser vor lauter Kummer. In seinem Leid bemerkte er gar nicht, dass der Vater hereingekommen war. Erst, als das Tischchen zur Seite geschoben wurde, schreckte er aus seinen Gedanken auf. Und was erblickte er da? Eine neue Pflanze stand mitten im Raum, die noch majestätischer war als die Palme in der Zimmerecke. Stolz reckte sie ihre Äste in den Raum. Erstaunt beobachtete der Weihnachtsstern, wie diese Pflanze, die sich als Rottanne vorstellte, vom Vater geschmückt wurde. Bald zierten farbige Kugeln und Bänder das satte Grün, ebenso Süssigkeiten, geflügelte menschenähnliche Wesen, Sterne, Äpfel und goldene Nüsse. Oh, es war einfach eine Pracht, welch herrliches Kleid der Rottanne angelegt wurde. Ach, bekäme er doch nur ein winziges Sternlein, eine kleine Kugel oder gar etwas süsse, in Glanzpapier eingewickelte Schokolade umgehängt! Sehnsüchtig starrte der Weihnachtsstern auf den schillernden Schmuck. Wie erstaunt schaute er aber, als am Abend gar noch glitzernde Lichtlein auf der Rottanne entzündet wurden, welche den Raum mit einem warmen Schein erfüllten. Oh, wie herrlich sah das aus! Dieser wunderbare Anblick beschämte den Weihnachtsstern tief, der sich mit seinem erbärmlichen Blätterkleid gleich noch schäbiger vorkam. Vor lauter Verzweiflung schluchzte er laut auf. Sehnsüchtig streckte er sein Laub in die Höhe. Würde sich denn nicht einmal Gott seines Elends erbarmen?

In seiner Hoffnungslosigkeit gewahrte er auf einmal ein helles Licht. Es schien aber von keiner Kerze herzukommen. Sonderbarerweise entsprang es unter dem Baum. Dort stand jedoch nur eine kleine Kiste, auf welcher Holzfiguren angeordnet waren. Alle schienen sich um ein winziges Püpplein zu scharen, das in der Mitte der Kiste lag. Und von diesem unscheinbaren Ding ging das herrliche Licht aus. Ob denn niemand ausser ihm, dem Weihnachtsstern, die wunderliche Erscheinung wahrnahm? Aber die Familie, welche sich um den Baum versammelt hatte und sang, schaute nur in die Kerzen. Ab und zu huschte ein verstohlener Kinderblick zu dem Haufen farbiger Pakete, aber niemand beachtete die Holzfiguren.

Nun vernahm der Weihnachtsstern eine Stimme. Ganz deutlich spürte er, dass es das kleine Holzpüpplein war, das zu ihm sprach: „Sei nicht traurig, guter Weihnachtsstern“, sagte es. „Siehe, auch mich, den lebendigen Christus, achteten die Menschen nicht. Nachdem sie mich gedemütigt und ans Kreuz geschlagen hatten, begannen sie nach ihrem Erlöser zu suchen. Sie suchen noch immer und merken in ihrer Blindheit nicht, dass ich in jedem von ihnen wohne, dass ich zu jedem von ihnen spreche. Doch was nützen Worte, wenn man sie an einen Tauben richtet? Nur wer in sich hineinsieht und hineinhorcht, kann mich erkennen. Trotzdem will ich den Menschen in ihrer Unwissenheit Trost spenden, will ihnen Heil und Segen bringen. So setze ich heute dieses Zeichen: Mit meinem Blut, das sie vergossen haben, färbe ich dein zu Gott erhobenes Antlitz. Trage dieses Geschenk mit Demut und der Gewissheit, dass auch in der kleinsten Seele die Liebe unseres Vaters wohnt.“

Plötzlich war das seltsame Licht verschwunden. Reglos und starr standen die Holzfiguren auf der Kiste, und der Weihnachtsstern fragte sich ganz benommen, ob er alles nur geträumt hatte. Da riss ihn aber ein lauter Ruf der Mutter aus seinen Gedanken. Die ganze Familie versammelte sich um das Wohnzimmertischchen. Anstatt die Kerzen im Baum anzuschauen, starrten alle auf ihn. Und tatsächlich, nun sah er es selbst: seine obersten Blätter waren rot, ganz und gar feuerrot! Jubelnd schickte der Weihnachtsstern ein Dankesgebet in den Himmel. Nie mehr musste er sich von nun an wegen mangelnder Aufmerksamkeit grämen. Stolz trägt er sein rotes Laub bis auf den heutigen Tag. Wir sehen es, aber nur wenige Menschen verstehen die stumme Botschaft, die der Weihnachtsstern zu verkünden hat: Öffne die Augen, denn auch du trägst in deiner Seele das heiligste Gut auf Erden: die vollkommene Liebe Gottes in Form deines Seelenlichtes!

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.