Die Dorforgel

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Heute war ein grosser Tag für die Einwohner des kleinen Dorfes: in ihre Kirche wurde nämlich eine neue Orgel eingebaut. Neugierig standen die Leute vor der Kirchentür und beobachteten das Ausladen aller Bestandteile, aus denen bald ein mächtig tönendes Musikinstrument zusammengestellt sein würde. Zuvorderst stand natürlich der Klavierlehrer der örtlichen Musikschule. Ihm würde die Ehre zuteilwerden, die neue Orgel einzuweihen und in der Folge an den Gottesdiensten zu spielen. Dieses Amt schmeichelte ihm, würde er doch derjenige sein, der für das Instrument die Verantwortung zu tragen hätte. Deshalb würde er es auch jederzeit benützen können, wie wenn es sein eigenes wäre.

Andächtig folgte er den Arbeiten und sah sich bereits mit seinen Fingern über die Tasten eilen, hörte Melodien und stellte sich vor, wie die Leute zufrieden seinem Spiel folgen würden. Etwas nachdenklich stimmte ihn allerdings der Gedanke, dass die Orgel in einer Kirche stand, in der gewisse Konventionen galten. So wäre es für die Dorfbewohner wohl undenkbar, wenn aus ihrem heiligen Haus Melodien von Negro Spirituals, Jazzklänge oder gar moderne Musik ertönen würden. Schliesslich durften hier nur Klänge zu Ehren Gottes erzeugt werden, und die mussten – darin waren sich die Dorfbewohner einig – vollkommen harmonisch sein. Nun, vielleicht könnte diese Meinung ja ganz langsam und behutsam geändert werden. Auf jeden Fall nahm sich der Klavierlehrer vor, den Leuten ab und zu kleine Kostproben der einen oder anderen Musikrichtung zu geben, nur wenig, ganz fein dosiert und ja nicht zu extrem, dafür aber immer wieder. So würden sie sich allmählich auch an unvertrautere Klänge gewöhnen und lernen, an ihnen Gefallen zu finden. Viel verlangte er dabei nicht von ihnen, denn auch er bevorzugte eher melodiöse Stücke, die sehr wohl auch sehr harmonische Stellen hatten. Trotzdem ihm war klar, dass sein Vorhaben noch etwas warten musste, denn Weihnachten stand vor der Tür. Zu dieser Zeit war das Harmoniebedürfnis aller Menschen besonders gross. Das wollte er respektieren und vorerst einige der alt bekannten Weihnachtsmelodien und die üblichen Liedbegleitungen üben. Viel Zeit blieb ihm dazu allerdings nicht, denn die Adventszeit war schon angebrochen, und mit ihr der Wunsch nach Andacht, Friede, Freude und eben Harmonie. Und da in den folgenden Wochen bestimmt jedermann im Dorf die neue Orgel hören wollte, würden auch dann, wenn nur geübt wurde, Menschen in den Kirchenbänken sitzen und andächtig den Melodien zuhören. So blieb kein Freiraum für musikalische Experimente. Aber eben, dies würde sich nach den Feiertagen sicher ändern lassen.

Weder der Klavierlehrer noch die anderen Leute im Dorf konnten sich vorstellen, dass nicht nur sie sehnsüchtig das erste Orgelspiel erwarteten. Niemand hatte eine Ahnung davon, dass im Innern des mächtigen Instruments die vielen Töne ganz aufgeregt ihrem ersten Auftritt entgegenfieberten. Sie hatten lange genug untätig sein müssen. Nun wollten sie endlich die Luft mit ihren Klängen erfüllen können. Sie wollten herumgewirbelt werden durch die Finger, welche die Tasten drückten, wollten helfen, verschiedenste Melodien zu erschaffen und mit ihnen zu experimentieren. Kurz: Sie wollten zu einem Leben erweckt werden, das schön, spannend und lustig war.

Dieser Wusch ging bald in Erfüllung. Endlich war nämlich für alle der grosse Augenblick gekommen: der Klavierlehrer setzte sich auf die Orgelbank, die Dorfbewohner reihten sich in die Kirchenbänke. Dann ertönten die ersten Akkorde. Machtvoll füllten sie die Kirche aus, verstummten und erwachten gleich darauf zu neuem Leben. Das vorerst zögernde Spiel wurde sicherer, der Wechsel der Akkorde schneller. Die Gesichter der Dorfbewohner begannen zu glänzen, über einige Wangen rollten gar einige Tränen des Glücks. Endlich gehörte auch ihre Kirche wieder zu den Gotteshäusern, die heilige Melodien erklingen lassen konnten. Die alte Orgel hatte ihren Dienst schon vor vielen Jahren versagt, für eine neue hatte das Geld nicht gereicht. Doch jetzt würden die Gottesdienste wieder von instrumentalen Klängen umrahmt, der manchmal etwas armselige Gesang der Kirchenbesucher durch ihre wohltönende Begleitung unterstützt und damit reiner und schöner werden. Glücklich verliessen schliesslich alle ihre Kirche, um das freudige Ereignis bei einem Glas Wein zu feiern.

Von nun an übte der Klavierlehrer regelmässig. Fingerübungen wechselten mit Melodien und Akkorden ab, wobei auch die verschiedenen Register gezogen und ausprobiert wurden. Langsam nahmen einige Weihnachtsmelodien Gestalt an, ebenso einige Liedbegleitungen. Alle schienen zufrieden zu sein. Oder etwa doch nicht? Hätten die Dorfbewohner die Sprache der Töne verstanden, wäre ihnen aufgefallen, dass etwas nicht ganz stimmte. So erfreut die Töne über das tägliche Spiel am Anfang gewesen waren, so sehr machte sich nach einer Weile Unmut bei ihnen bemerkbar. Immer nur dieselben Akkorde wurden gespielt, und das fanden sie langweilig. Sie wollten miteinander experimentieren können. Der Ton A wollte nicht immer nur dann benützt werden, wenn ganz bestimmte andere seiner Kollegen erklangen. Er wollte auch mit denjenigen Freunden zusammen in der Luft tanzen, mit denen sich Akkorde ergaben, welche die Leute disharmonisch genannt hätten. Dies würde schliesslich so eine richtig erfrischende Spannung erzeugen, welche jede Langeweile vertrieb. Zudem würden die Leute auf neue Gedanken gebracht, würden sie doch neue Lebensformen erfahren. Ja, Musik ist schliesslich Leben, selbst dann, wenn sie anders klingt, als man es gewohnt ist. Es gibt ja so viele Arten von Leben, wieso soll eigentlich nur eine richtig sein? Ist es zudem notwendig, dass es immer harmonisch tönt, damit Friede, Freude und Harmonie in den Herzen der Menschen entstehen kann? Muss Leben überhaupt immer harmonisch sein? Tötet nicht vielleicht gerade das immer Gleiche eine Menge Leben, weil es Langeweile und damit auch eine Art von Disharmonie erzeugt, was zerstörerisch wirkt? Müssten deshalb die Leute nicht vielleicht die Möglichkeit haben, ganz viele Lebensarten zu erfahren, um ihr Dasein zu bereichern, ihr Empfinden zu vertiefen, ihre Herzen für anderes zu öffnen und so wirkliche Freude und Harmonie zu finden?

Solch philosophische Gedanken hegten die Töne natürlich nicht. Ihnen war es ganz schlicht und einfach langweilig, und eines schönen Tages stand ihr Entschluss fest: Sie wollten die Orgel verlassen und ein Instrument suchen, bei dem sie auf ihre Rechnung kämen. In ihrer Naivität vergassen sie allerdings, dass jede Orgel, die regelmässig gespielt wurde, auch bereits von Tönen bewohnt war. Aber davon später. Schauen wir zuerst, was die Flucht der Töne bei den Dorfbewohnern auslöste.

Für den Klavierlehrer war es eine böse Überraschung, als er am Samstag vor dem Gottesdienst zum vierten Advent die Tasten der Orgel drückte, ohne dass sich den Orgelpfeifen ein Ton entrang. Er konnte beliebige Register ziehen, in der Kirche blieb es mäuschenstill. Ungläubig starrte er das Instrument an. Gestern hatte es noch tadellos funktioniert, und ausser ihm hatte es in der Zwischenzeit niemand benützt. In aller Eile liess er einen Orgelspezialisten kommen, der alles untersuchte. Kopfschüttelnd packte dieser schliesslich sein Werkzeug ein. Er konnte keinen Defekt finden, womit es für ihn auch nichts zu reparieren gab. Ratlos blickten sich die beiden Männer an und beschlossen, dass wohl nichts anderes übrigbleiben würde, als die Orgel gegen eine neue einzutauschen. Schliesslich stand sie noch unter Garantie.

Als die Dorfbewohner von der misslichen Situation erfuhren, waren sie sehr betrübt. Niemand konnte sich vorstellen, weshalb das musikalische Vergnügen ein so jähes Ende nahm. So ist es nicht erstaunlich, dass die Predigt am vierten Advent niemandem so richtig Freude machte. Allen fehlte die Musik.

Trotz der Stummheit der Orgel spielte der Klavierlehrer auch in der folgenden Zeit fast jeden Tag, um nicht aus der Übung zu kommen. Wie gewohnt folgten nach den Fingerübungen die Weihnachtsmelodien. Dann allerdings gestattete er sich auch eigene Improvisationen. Nun hörte man von draussen ja nichts mehr, er konnte also niemanden stören. In seinem Inneren nahm er aber seine Melodien sehr wohl wahr. Sie rissen ihn in eine Traumwelt, aus der er manchmal erst nach längerer Zeit wieder auftauchte. Diese Träumereien genoss er, wusste aber auch, dass er ihnen nicht mehr lange freien Lauf lassen konnte, denn man hatte ihm versprochen, bald einen provisorischen Ersatz zu liefern. Vor Weihnachten war es allerdings nicht mehr möglich. Die Musikgeschäfte waren durch die Weihnachtsverkäufe zu stark belastet. Während die Dorfbewohner um ihre neue Orgel trauerten und der Klavierlehrer aus der misslichen Situation das beste zu machen versuchte, trieben sich die Töne herum und suchten krampfhaft nach einem Instrument, das sie aufnehmen würde. Doch bald merkten sie, dass das nicht so einfach war. Zwar gab es Töne, die ganz gerne einmal Ferien gemacht und ihnen ihren Platz für einige Zeit überlassen hätten, doch nirgends konnten sie längere Zeit bleiben. Sie mussten einfach einsehen: Jede Orgel hatte ihre Töne, und diese gehörten zu ihrem Instrument und wollte auch dort bleiben. Entmutigt berieten sich die nun heimatlos gewordenen Töne.

Endlich sagte das hohe C: „Hört, liebe Schwestern und Brüder! Ich habe eine Idee. Wie Ihr alle seht, ist es sinnlos, unsere Suche fortzusetzen. Wir gehen somit wohl besser zu unserem alten Instrument zurück. Dort treten wir dann allerdings in den Streik. So wird die Orgel nicht tönen, worauf sie sicher ausgetauscht wird. Sobald dies geschehen ist, beenden wir natürlich unseren Streik. Die Orgel wird folglich wieder irgendwo installiert und wir erhalten endlich die Möglichkeit, unser ganzes Potential auszuleben.“

Dieser Vorschlag erschien allen vernünftig, und innert kürzester Zeit befand sich jeder Ton in seiner Pfeife in der Dorfkirche. Dies geschah gerade in dem Augenblick, als der Klavierlehrer die letzten Weihnachtsmelodien geübt hatte und sich nun gestattete, seinen Träumereien nachzuhängen. Welche Überraschung bot sich da den Tönen, als sie plötzlich wild durcheinander angeschlagen wurden. Zuerst waren sie ganz fassungslos vor Staunen, dann riefen sie einander beglückt zu: „Los, worauf warten wir denn noch!“ Sie liessen sich durch das Spiel des Klavierlehrers in die Luft wirbeln, so dass die Kirche unter der Wucht des Klangs erzitterte. Dies nahm der Klavierlehrer allerdings nicht wahr, denn in seinen inneren Ohren hatte es bereits vorher getönt. Erst durch die Rufe einiger Dorfbewohner tauchte er aus seinen Träumen auf. Erschrocken hielt er in seinem Spiel inne. Tatsächlich, es hatte wirklich getönt!

Sofort versuchte er, eine der Weihnachtsmelodien zu spielen. Die ersten Akkorde tönten laut, so dass die Dorfbewohner zu jubeln begannen. Doch plötzlich erstarben die Klänge und das Spiel hörte sich bald nur noch wie ein Fauchen an. Ungeduldig haute der Klavierlehrer nun eine Improvisation in die Tasten, und siehe da, es tönte wieder. Dieses Spiel wiederholte sich mehrere Male. Kaum wurden die geübten Weihnachtsmelodien begonnen, erstarb der Klang, lebte jedoch mächtig auf, sobald der Klavierlehrer eine seiner Improvisationen zum Besten gab. Schliesslich standen die Leute ratlos herum und fragten sich, was dies zu bedeuten hatte. Eines schien klar: irgendeine Macht hielt die Orgel davon ab, die alten Melodien zu spielen, liess sie aber bei Improvisationen aufleben. Um welche Macht es sich hier handeln musste, war den gläubigen Dorfbewohnern bald einsichtig. Schliesslich befand man sich in einer Kirche. Gott wollte ihnen offensichtlich zu verstehen geben, dass in dieser Kirche andersartige Musik gespielt werden sollte. Nicht die harmonischen Akkorde waren erwünscht, sondern Musik mit etwas fremderem Charakter, die den Ohren nicht so vertraut war. Deshalb wurde einstimmig, wenn auch schweren Herzens, beschlossen, dass der Klavierlehrer bis zum Weihnachtsfest ein solch neuartiges Musikprogramm einüben sollte, allerdings so gemässigt wie möglich. Trotz dieses Wunsches äusserten die Leute schwere Bedenken, ob ein solcher Gottesdienst denn noch weihnachtlich sei. Doch lieber wollte man den Weihnachtsgottesdienst mit etwas befremdenden Klängen begleiten, als ihn ohne Orgelmusik zu gestalten. Am Schluss des Gottesdienstes – das wollten sich die Dorfbewohner trotz allem erlauben – sollte noch ein alter Choral gesungen werden, und zwar lieber ohne Orgelbegleitung als mit einer neuartigen Variante.

Nun hörte man den Klavierlehrer sehr häufig üben. Oft blieben Dorfbewohner vor der Kirche stehen und lauschten dem herrlichen Klang ihrer neuen Orgel. Einigen begannen die neuen Stilrichtungen Spass zu machen. Viele pfiffen sogar ein zuvor gehörtes Orgelstück bei der Arbeit selbstvergessen vor sich hin. Allmählich fanden sie die Musik gar nicht mehr so andersartig. Es war eben Musik, wie es die altvertraute auch war. Es war ein Spiel von Tönen, das die Herzen zu ergreifen vermochte, wenn man es zuliess. Und so kam es, dass am Abend des 24. Dezember die Kirche mit Menschen gefüllt war, die zwar in etwas banger, aber dennoch freudiger Erwartung der Dinge harrten, die da kommen sollten.

Sobald die ersten Orgelklänge das Gotteshaus erfüllten, waren alle Bedenken verflogen. Auch wenn die Orgel nicht so tönte, wie die Dorfbewohner es bei ihrem Kauf erwartet hatten, tönte sie wunderschön. Die Melodien schienen trotz disharmonisch erscheinender Stellen eine kraft- und lichtvolle Stimmung zu zaubern, welche all diejenigen erfasste, die sich erfassen liessen, und das waren nicht wenige. So wurde der Gottesdienst trotz anfänglicher Bedenken sehr feierlich und ein grosser Erfolg. Den letzten Choral sagte der Pfarrer deshalb auch nur ungern an. Er fand es schade, dass der musikalische Abschluss des Gottesdienstes ohne Orgelbegleitung stattfinden sollte. Doch nun geschah ein Wunder: Wie er es gewohnt war, spielte der Klavierlehrer weiter, obschon er wusste, dass die Melodie nicht hörbar sein würde. Aber diesmal täuschte er sich: Die Orgel ertönte in ihrer vollen Pracht. Die Töne hatten nämlich mittlerweile beschlossen, dass sie ihren Streik aufgeben könnten. Sie hatten jetzt Abwechslung genug, so dass sie mit Vergnügen auch die altbekannten Harmonien erklingen liessen.

Als der letzte Akkord langsam verhallte, sassen alle Leute still und andächtig in den Kirchenbänken. Lange wagte niemand, sich zu bewegen, um den einzigartigen Augenblick der tief empfundenen Freude nicht zu zerstören. Dieses wundervolle Gefühl hatte nur entstehen können, weil die Herzen weit und dann in ihrer ganzen Grösse erfüllt worden waren. Und in ihrer stillen Andacht erkannten die Dorfbewohner plötzlich: Wahre Freude kann man nicht mit engherzigem Geist erzwingen. Wahre Freude ist ein Geschenk, das nur offene Herzen zu empfangen vermögen.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
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