„Die Exkursion der Bilder“

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

„Noch ein bisschen höher. Nein, jetzt ist es schief. Vielleicht passt es doch besser an einer anderen Wand.“ So und ähnlich tönte es schon den ganzen Tag durch die Räume der Villa. Geschäftig wurden Bilder aus Versandkisten geholt, auf allfällige Schäden überprüft und aufgehängt. Die Arbeit machte Spass. Schliesslich konnte man nicht jeden Tag mit solch wertvoller Ware arbeiten. Zudem sorgte das Thema für viel Herzenswärme: von den unterschiedlichsten Künstlern war die Weihnachtsgeschichte auf einzigartige Weise dargestellt worden. So entstand allmählich eine ganz besondere Stimmung in der Kunsthalle. Ob man wollte oder nicht: irgendwie schlichen sich weihnachtliche Gefühle in die Herzen der Mitarbeiter. Selbst diejenigen, welche sonst nicht so viel mit dieser Zeit anfangen konnten, spürten diese besondere Schwingung in ihrer Seele. Offensichtlich war es den Meistern der Künste gelungen, die Weihnachtsbotschaft effektiv einzufangen und für die Betrachter erlebbar zu machen.

Ja, es kam nicht von ungefähr, dass die meisten der Gemälde, welche pünktlich für die Vernissage an ihren Plätzen hingen, berühmt und entsprechend wertvoll waren. Die Vorkehrungen für diese Ausstellung waren entsprechend kostspielig gewesen. Aber es hatte sich gelohnt. Was hier den Besuchern geboten wurde, war erstklassig. Somit waren die Organisatoren zuversichtlich, dass der Erfolg nicht ausbleiben und die Kassen klingen würden.

Am sichersten bezüglich Erfolg waren wohl die Bilder selbst. Sie waren es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen und bewundert zu werden. Zudem waren sie sich ihrer kraftvollen Ausstrahlung bewusst. Immer, wenn ein Betrachter genügend lange in ihrem Wirkungsfeld gestanden hatte, schien es ihm anschliessend besser zu gehen. Ein ganzes Haus voller ähnlicher Kunstwerke würde folglich eine Stimmung verursachen, die wohl einmalig wäre. Aber eben: nachdem es für die Gemälde sozusagen Alltag war, dachten sie nicht weiter darüber nach. Umso erstaunter waren sie, als eines der kleinsten Bilder plötzlich seufzte und klagte: „Das ist alles so verlogen! Die ganze Weihnachtszeit ist verlogen. Wir leben hier in einer totalen Blase. Wenn ihr sehen würdet, wie es ausserhalb dieser Räume aussieht! Ihr würdet nur noch staunen. Die Menschen sind oberflächlich und gedankenlos, verletzen einander ständig, streiten, sind unzufrieden und denken nur selten an das Göttliche in ihrem Leben. Selbst an Weihnachten verstehen viele nicht wirklich, worum es geht. Es ist ein grosses Trauerspiel.“

Was das kleine Bild von sich gab, fanden seine Mitstreiter ziemlich krass und dachten, dass es wohl ein bisschen übertrieb. Aber der Winzling unter ihnen liess nicht locker und beschrieb in buntesten Farben etliche Erfahrungen, die er gemacht hatte. Allmählich wurden die Gemälde unsicher und gestanden sich ein, dass sie das Leben wirklich nicht umfassend kannten. Sie hingen ja ausschliesslich in Museen und Galerien, und das meistens zur Weihnachtszeit. Ein Aquarell hatte plötzlich eine glänzende Idee:

„Wir gehen diesen Umstand recherchieren. Ich will mit eigenen Augen sehen, ob das stimmt, was unser Kollege behauptet.“

Zum Glück hatte das ganze Wortgefecht erst begonnen, nachdem die Mitarbeitenden der Ausstellung das Gebäude bereits verlassen hatten. Sie wären wohl überrascht gewesen, dass plötzlich gewisse Gemälde an den Wänden schaukelten und es merkwürdige Geräusche gab. Die Diskussionen waren nämlich ziemlich laut und heftig, aber natürlich in der Bildersprache.

Den Rest der Nacht übte das Aquarell mit seinen Freunden eine Technik ein, welche sie in der folgenden Zeit anwenden wollten. Somit vernahm man nichts mehr ausser ab und zu kurze Anweisungen.

Als am nächsten Tag letzte Vorbereitungen für die Eröffnung der Ausstellung getroffen wurden, fiel nichts Ungewöhnliches auf. Die Räume schienen bald vor freudiger Erwartung zu triefen. Die Anwesenden wirkten zufrieden und endlich wurden nach etlichen Stunden die Lichter gelöscht und die Türen geschlossen.

Das war der Startschuss für das Projekt der Bilder. Aufgeregt richtete die ganze Schar ihre Aufmerksamkeit auf das Aquarell.

„Also, noch einmal das Wichtigste: wir bleiben alle zusammen. Niemand entfernt sich von der Gruppe. Ihr seid noch zu wenig geübt. Wenn es gut läuft, können wir gut mehrere Tage draussen bleiben. Wenn ihr euch nicht an die Regeln haltet, müssen wir schnell wieder zurück, denn sonst ist das Risiko zu gross.“

Die Bilder hatten sich all die Punkte bereits gut eingeprägt. Gespannt warteten sie auf den grossen Augenblick. Endlich war es so weit. Mit Hilfe der sorgfältigen Anleitung des Aquarells verliessen die Gemälde ihre Körper.

Ja, nicht nur wir Menschen sind Seelen, die in einem Körper wohnen. Das Gleiche gilt für alles Gegenständliche auf dieser Welt. Wir Menschen jedoch haben dummerweise gründlich vergessen, dass wir im Grunde genommen nicht unsere Körper, sondern eben Seelenwesen sind. Diejenigen von uns, die sich dieser Tatsache wieder bewusst wurden, mussten erkennen, dass die beiden Bereiche so sehr miteinander verwoben sind, dass man sie nicht so ohne weiteres voneinander trennen kann. Ein Ausflug der Seele, bei dem man den Körper zu Hause lässt, ist leider für die meisten ein Wunschtraum. Da Bilder nicht ganz so kompliziert sind wie Menschen, gelang ihnen dieses Kunststück nach den intensiven Übungen recht gut. Allerdings konnten sie es nicht vermeiden, dass dadurch die Farben auf den Leinwänden erheblich blasser wurden. Doch in ihrer Aufregung fiel dies keinem auf.

Am Anfang war es gar nicht so einfach, sich frei zu bewegen. Wenn das Aquarell nicht gut aufgepasst und die Gruppe zur strengen Ordnung aufgerufen hätte, wäre das eine oder andere Bild mangels Konzentration plötzlich verschwunden. Dass die meisten noch mehrheitlich Schieflage hatten, liess sich nicht vermeiden, wurde aber zusehends besser. Bereits nach der ersten Stunde ausserhalb der Kunsthalle fühlten sich die Ausreisser recht sicher, so dass sie endlich in einer geordneten Form ihre Reise fortsetzen und die menschlichen Gewohnheiten erforschen konnten. Dank der besonderen Fortbewegungsform war es möglich, in Blitzgeschwindigkeit riesige Strecken zurückzulegen. Welch ein Spass, bei den verschiedensten Völkern Verhaltensstudien durchzuführen. Die Bilder konnten nicht genug davon bekommen, das farbige Treiben auf der Erde zu beobachten. Doch die erste Faszination legte sich bald, als sie zu erkennen begannen, dass tatsächlich einiges schief lief. Ihr kleiner Kollege hatte nicht übertrieben: die Menschen waren unersättliche Geschöpfe, die zwar über eine gewisse Intelligenz verfügten, diese aber irgendwie falsch einsetzten. Es machte den Eindruck, als würden sie eine Rechnung immer nur bis zur Hälfte rechnen, nämlich bis dort, wo sie kurzfristig einen Gewinn verbuchen können. Leider erkennen sie nicht, dass die Rechnung eigentlich noch länger wäre. Würden sie diese zu Ende rechnen, könnten sie sehen, dass am Schluss ein völlig anderes Resultat entsteht. Es gab jedoch auch andere Menschen. Diese wirkten viel heller als ihre Genossen. Sie behielten offensichtlich die gesamte Rechnung im Auge und lebten deshalb auch anders. Ihre Ausstrahlung glich stark derjenigen, welche die Gemälde von den Besuchern der Ausstellungen kannten.

Ja, die Ausstellung! Was war eigentlich dort geschehen?

In der Kunsthalle war endlich der grosse Tag der Vernissage angebrochen. Aufgeregt tummelten sich die Besucher vor dem noch geschlossenen Gebäude. Auch die Presse war zahlreich erschienen. Die Organisatoren waren guten Mutes, bereiteten den Apero fertig vor und öffneten dann die Türen. Alle waren neugierig, was sich ihnen darbieten würde. Nach einer kurzen Ansprache wurden die Gäste mit einem wunderschönen Führer ausgestattet und verteilten sich sogleich in die Räume. Zuerst wurde es ganz still. Dann setzte langsam ein verhaltenes Sprechen ein, das immer lauter wurde. Die Besucher drängten sich bald wieder in die Empfangshalle und machten ihrer Enttäuschung Luft: das waren ja lauter blasse Bilder! War der Katalog voller geschönter Fotos? Das war doch der reinste Betrug! Die Presse witterte schon einen Skandal und konfrontierte die Betreiber der Kunsthalle. Diese waren völlig verdattert und verstanden kein Wort. Was war denn los? Schnell überprüften sie die Situation und trauten ihren Augen nicht: die ganze Strahlkraft der Gemälde war verschwunden. Es war ein Rätsel. Nach kurzer Beratung traten sie vor das Publikum und die Presse und klärten auf: noch am Vortag hätten alle Kunstwerke in vollem Glanz gestrahlt. Jeder Kunstkenner wisse, wie diese Bilder in Wirklichkeit aussehen sollten. Was hier vor sich gehe, sei ein Mysterium. Sie hätten keine Erklärung dafür.

Man kann sich vorstellen, wie sich die Gemüter erhitzten. Einige sahen teuflische Machenschaften und flohen. Andere wollten ausserirdische Einflüsse geltend machen. In Kürze entstanden unterschiedlichste Spekulationen. Die Neuigkeit breitete sich mit Windeseile aus, so dass ein riesengrosser Andrang entstand. Von weit her kamen die Menschen angereist, um dieses Phänomen zu bestaunen. Durch die Presse wurde es bis in den hintersten Winkel der Welt getragen und überall mit Interesse verfolgt. Langsam stellte sich vielerorts ein gewisses Unbehagen ein. War dies möglicherweise ein schlechtes Omen? Immerhin musste selbst der hartgesottenste Leugner eingestehen, dass die Zustände in der Welt mehr als besorgniserregend waren. Wäre es nicht möglich, dass hier eine Botschaft die Kinder Gottes aufrütteln sollte? Schliesslich handelte es sich um eine Weihnachts-Ausstellung. Und Weihnachten war der Geburtstag von Jesus Christus. Dieser weise Mann wurde auch der Erretter genannt. Sollte die Erde so vielleicht vor dem sicheren Untergang gerettet werden? Solche und ähnliche Gedankenspiele füllten viele Zeitungsseiten und die Köpfe der Menschen.

Inzwischen trieben sich die Bilder noch immer nichtsahnend auf den Kontinenten herum und untersuchten den Zustand der Menschheit. Sie erkannten, dass es trotz einer gewissen Vielfalt keine wirklichen Unterschiede gab. Obschon sie verschiedene Kulturen vorfanden, die ganz eigene Verhaltensweisen pflegten, glichen sich sämtliche Menschen in ihrem Wesen. Es gab überall die unreifen, welche nur die halbe Rechnung machten. Gleichzeitig existierten aber auch leuchtende Seelen, die mit Weitsicht agierten und in sich und ihrer Umgebung Frieden und Liebe generierten. Leider gab es zu viele von der ersten Sorte, so dass die Erde unter dem Gewicht von Ungerechtigkeiten und Ausbeutung stöhnte.

Nach einem langen Studientag war es wieder einmal Zeit für eine Ruhepause. Da erblickte das Aquarell von weitem eine grosse Ansammlung von Menschen. Von dort strahlte der Bildergruppe viel Licht entgegen. Das war so herrlich wohltuend, dass alle automatisch die Versammlung anpeilten. Was sie nicht wussten: Der Papst hatte sich in diesem Jahr zu einer grossen Welttournee entschlossen. An verschiedenen Orten wollte er eine Weihnachtspredigt halten und die Gläubigen zur Verbesserung ihres Verhaltens anregen. Sein Erscheinen mobilisierte überall grosse Menschenmengen. Auch die Presse verfolgte das Geschehen und übertrug die Auftritte live, womit jeweils ein Millionenpublikum erreicht wurde. Und genau auf einen solchen Event stiessen die Gemälde nun.

Als der Papst von gegenseitigem Respekt zu predigen begann, spürten die Bilder, dass diese Energien genau in die richtige Richtung gingen. Das fühlte sich so gut an, dass sie sich allesamt zufrieden seufzend auf den Kopf des Heiligen Mannes setzten. Weil auf diesem Platz so viele Leute standen, welche sich redlich darum bemühten, das Gute in sich zu mobilisieren, entstand eine grosse Ladung an lichtvollen Energien. Durch diese wurden auch die Energiekörper der Bilder mächtig aufgeladen. Das erzeugte ziemlich viel Wärme, aber auch Leuchtkraft. Und so passierte folgendes:

Plötzlich begann der Papst unsäglich zu schwitzen. Seine Begleiter nahmen besorgt wahr, wie ihm unvermittelt der Schweiss über das Gesicht floss. Mehrfach musste er gestützt werden. Man brachte ihm Wasser, damit er etwas trinken konnte. Mit grösster Anstrengung setzte er nach jeder Unterbrechung seine Rede fort. Dann geschah das grosse Wunder: rund um den Kopf des Papstes wurden viele kleine Regenbogen sichtbar. Es sah fast wie ein Heiligenschein aus, aber eben in Regenbogenfarben. Das Phänomen hielt an, solange der Kirchenmann zu seiner Schar sprach. Nicht nur die Anwesenden konnten es sehen, sondern die ganze Welt wurde dank der Live-Übertragungen Zeuge dieses Spektakels. Nach diesem Ereignis wurde der völlig erschöpfte Papst nach Rom zurückgebracht. Gleichzeitig geriet die Welt in Aufruhr.

Weil keine logischen Erklärungen für die Mysterien gefunden werden konnten, bekamen es die Menschen mit der Angst zu tun. Da mussten effektiv höhere Mächte die Finger im Spiel haben. Folglich begannen die Kinder Gottes die Bedeutung von Weihnachten zu analysieren und kamen immer wieder zum gleichen Schluss: vor gut 2000 Jahren war Jesus Christus geboren worden und hatte ihnen eine Botschaft gebracht. Diese hatten sie aber noch nicht umgesetzt. War er noch einmal gekommen, um sie zu erinnern, dass es nun höchste Zeit dafür war? Gier drängt Menschen zum Handeln, aber Angst ist eine noch stärkere Triebfeder, und diese Angst war inzwischen beträchtlich. So fanden endlich diejenigen Kräfte Gehör, die schon längst eine Umkehr von zerstörerischem Verhalten verlangt hatten. Das Umdenken machte zwar manchem Erdenbürger etliches Kopfzerbrechen. Aber es war immer noch besser, als in einer Katastrophe das Leben zu verlieren. Und so kam es, dass die Gemälde auf ihrer Rückreise in die Kunsthalle immer mehr Menschen begegneten, welche heller leuchteten.

Pünktlich zu Weihnachten erstrahlten die Gemälde in den Ausstellungsräumen wieder in ihrer ursprünglichen Farbintensität. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Tatsache. Nun waren sich die Erdenbewohner sicher: sie hatten die Botschaft einer himmlischen Macht richtig verstanden, deshalb hatte sich die Ordnung wieder hergestellt. Welch ein Wunder hatte ihnen diese Weihnacht doch beschert!