Die Intercity-Züge

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

„Gleis 2 bitte alle einsteigen!“ tönte es aus dem Lautsprecher am Bahnhof. Gleich darauf pfiff der Kondukteur und gab das Zeichen zur Abfahrt. Schon schlossen sich die Türen des Intercity-Zuges Nr. 126 und die lange Wagenschlange setzte sich langsam und ächzend in Bewegung. Doch die leistungsstarke Lokomotive hatte die träge Masse bald in Schwung gebracht, so dass die Wagen elegant über die Schienen flitzten.

Wieder war der Intercity unterwegs, einmal mehr auf der vertrauten Strecke zwischen Zürich und Bern. Wie oft er diese Strecke schon gefahren war! Unzählige Male war er über die blanken Schienen geglitten und hatte den Rausch der Geschwindigkeit genossen. Langweilig würde es ihm dabei nie werden, gab es doch stets Neues zu sehen, ausserhalb wie auch innerhalb seiner Wagen. Seit vielen Wochen bearbeiteten zum Beispiel einige Männer eines der Geleise zwischen Bern und Freiburg, womit ein langes Stück einspurig war. Da konnte er immer die Fortschritte der Arbeiten begutachten. Ausserdem musste er häufig stehen bleiben, weil sich der Gegenzug verspätete. In solchen Momenten merkte er jeweils, wie die Passagiere in seinem Inneren, die bisher ihrer eigenen Beschäftigung nachgegangen waren, aus dem Fenster blickten und den Grund für den Stillstand herauszufinden versuchten. Manche von ihnen wurden recht ungeduldig, fluchten gar oder herrschten den Kondukteur an. Kein Wunder, mussten doch viele an einer der nächsten Stationen aussteigen und einen Anschlusszug erreichen. Der Intercity seinerseits wartete gern. Er liebte es, die Landschaft zu betrachten und dabei völlig von Ruhe umgeben zu sein, was in den Bahnhöfen ja nie der Fall war. Schade, dass die Menschen in ihm den Frieden oft störten. Aber eben, wie gesagt, er verstand sie.

Mitten in seinen Gedanken durchfuhr ihn plötzlich ein freudiger Schauer. Würde er nicht noch heute den Intercity Nr. 103 antreffen, ein weibliches Mitglied seiner Gattung? So komisch dies erscheinen mag: auch die Züge haben ein Geschlecht. Dieses ist ihnen von aussen nur nicht anzusehen, weshalb die Menschen fälschlicherweise meinen, das wären alles neutrale Gefährte, oder wenn man ihrer Sprache Beachtung schenken wollte alles männliche. Oder hat etwa schon einmal jemand von „die Zug“ oder „die Intercity“ gesprochen? Wohl nur Leute, die der deutschen Sprache nicht ganz kundig sind. Ob sie damit aber nicht ein Stück Wahrheit getroffen haben? Wie dem auch sei, die Züge selbst wussten alle sehr gut, welchem Geschlecht sie angehörten. Hätte man ihre Bauweise genau betrachtet, wären auch äusserliche Zeichen auszumachen gewesen. Aber eben, die Unwissenheit der Menschen machte solche Untersuchungen sinnlos.

Dem Intercity Nr. 126 wurde warm. Die Hitze im Innern des überheizten Zuges erfasste nun auch sein Äusseres, so dass er in der kalten Winterluft fast dampfte. Die Vorfreude war gross, denn ihm war inzwischen klar geworden, dass eine Begegnung schon recht bald stattfinden würde. Allerdings kam nun auch gleich etwas Wehmut über ihn: so sehr er sich jeweils auch bemühte, die schnelle Fahrt nur um wenige Stundenkilometer abzubremsen, gelang es ihm doch nie, den Zugführer zu überlisten. Dieser merkte stets, dass aus irgendwelchen Gründen die Geschwindigkeit abnahm und beschleunigte wieder auf das ursprüngliche Fahrtempo. Dem riesigen Druck des Antriebs war der Intercity nicht gewachsen, also sauste er unbarmherzig an seiner Geliebten vorbei. Dank dem, dass beide Züge so lang waren, dauerte ihre Begegnung dennoch einige Sekunden, welche sie auch redlich ausnützten, sich gegenseitig ihre Liebe beteuerten und voneinander die Wärme spürten. Aber eben, für zwei Verliebte waren diese Sekunden eine kurze Zeit. Erfüllt mit erhebenden und wonnigen Gefühlen, gleichzeitig aber auch mit Kummer und Schmerz, mussten beide Intercity ihres Weges ziehen. Ihr einziger Trost war jeweils das Wissen, dass sie sich im Verlaufe der nächsten Stunden wieder begegnen würden.

Lange konnte es diesmal nicht mehr dauern, das spürte der Zug Nr. 126 genau. Und ehe er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, erblickte er sie schon von weitem. Eben wollte er ihr seinen Willkommensgruss entgegenpfeifen, als er plötzlich merkte, dass seine Geschwindigkeit ohne eigenes Dazutun deutlich abnahm. Immer langsamer wurde die Fahrt, und zwar nicht nur bei ihm seiner Freundin schien es nicht besser zu gehen, denn nun rollten sie beide im Schritttempo einander entgegen und blieben schliesslich nebeneinander stehen. Vor lauter Verblüffung über den glücklichen Zufall vergassen die beiden Züge beinahe, die Gunst der Stunde auszunützen und sich ihre Liebe zu bekunden. Doch dann neigten sie sich soweit wie möglich einander zu, was nicht weiter schwierig war und auch niemandem auffiel, da sie sich in einer Kurve befanden. Ihre Gefühle verschmolzen miteinander und versetzte sie in einen rauschähnlichen Zustand. Ganz still standen sie da und waren bestrebt, den anderen möglichst tief in sich aufzunehmen und seine Liebe in seinem Herzen zu bewahren.

Inzwischen begannen sich die Menschen im Innern des Zuges zu regen. Sie schauten aus den Fenstern, blickten auf ihre Uhren, schüttelten ärgerlich die Köpfe und fragten sich, weshalb sie ausgerechnet am heutigen Tag, dem 24. Dezember, hier stehenbleiben mussten. Schliesslich wollten sie möglichst früh zu Hause sein, die einen, weil sie den Weihnachtsabend vorbereiten sollten, die anderen, weil sie zum heiligen Fest eingeladen waren. Nur wenige Passagiere sassen gleichmütig in ihren Sitzen, erwartete sie doch keine Feier.

Auch der Kondukteur begann ungeduldig zu werden. Musste dieser Stromausfall denn wirklich ausgerechnet jetzt eintreffen? Wie viele andere wurde er zu Hause erwartet und sollte für seine Kinder das Bäumlein herrichten. Aber jetzt musste er sich gedulden, denn sein Unmut durfte nicht sichtbar werden. Schliesslich war es vielmehr seine Aufgabe, aufgeregte Reisende zu beruhigen, was heute wohl nicht leicht sein dürfte. Seufzend ergab er sich in sein Schicksal, verzog den Mund zu einem Lächeln und betrat den nächsten Wagen, gewappnet, den Missmut der Menschen auf sich zu nehmen und mit Gleichmut zu tragen. Doch schon als er die Tür öffnete, schien ihm die Stimmung, die ihm entgegenschlug, merkwürdig. Niemand ärgerte sich mit lauter Stimme über die unfähigen Schweizer Bahnen. Die Leute streckten ihm vielmehr freundlich ihre Billette entgegen und erwiderten sein Lächeln. Hier und dort unterhielt man sich über mögliche Gründe des Zugstillstandes, erzählte sich, weshalb diese Wartezeit eigentlich ungelegen kam, nahm sie aber freundlich in Kauf. Schliesslich konnte ja selbst die perfekteste Technik nicht immer funktionieren, das war doch ganz klar und leuchtete jedem ein. Auch im folgenden Wagen war die Stimmung ruhig. Ein Mann hatte einen Sack Weihnachtsgebäck aus seiner Tasche geholt und verteilte es an die anderen Wartenden. Eine Frau summte leise ein Weihnachtslied vor sich hin, zwei Kinder übten ihre Weihnachtsgedichte, die sie am Abend auswendig vortragen sollten. Statt roher Worte und Beschimpfungen durfte der Kondukteur gute Wünsche entgegennehmen. Die Sache wurde ihm langsam unheimlich, als ihn im dritten Wagen das gleiche Bild erwartete. Etwas Merkwürdiges war geschehen, das er sich nicht erklären konnte. Sollten nicht genau heute die Gäste zu Recht aufgeregt und ungehalten über die Verspätung sein? War es nicht doppelt ärgerlich, am 24. Dezember mitten auf der Strecke zwischen Zürich und Bern auf dem Geleise zu stehen und zu warten, bis die Strompanne behoben war?

Das Verhalten der Menschen, das ihn eigentlich hätte freuen sollen, bereitete ihm auf einmal Unbehagen. War Weihnachten vielleicht doch mehr, als er es immer behauptet hatte? Ihm bedeuteten diese christlichen Feste nicht viel. Er pflegte sie eigentlich nur wegen der Kinder, die es ihm durch ihre Freude auch redlich dankten. Lag in Weihnachten aber vielleicht doch eine besondere Kraft, die er bisher einfach noch nie wahrgenommen hatte? Doch das erschien ihm unglaublich, denn er konnte sich nicht erinnern, je an einem der vergangenen Feste etwas in der Art erlebt zu haben, was ihm heute widerfuhr. Wie dem auch sei, eines war ihm klar: Wenn Weihnachten das Fest des Friedens und der Liebe sein sollte, so erlebte er zu dieser Stunde das erste Mal eine wirkliche Weihnacht, zwar ohne Tannenbaum und Kerzen, dafür aber inmitten einer alles durchströmenden Herzlichkeit und Wärme.

Energisch schüttelte der Kondukteur alle rührseligen Gedanken ab und durchwanderte weiterhin Wagen um Wagen, immer in der bangen Erwartung, das Wunder entpuppe sich als Traum und die Menschen seien plötzlich wieder ungeduldig und unhöflich wie eh und je. Aber diese blieben freundlich, auch als der Zug nach vollen zwanzig Minuten endlich wieder anfuhr.

Eine Erklärung für sein Erlebnis konnte der Kondukteur nie finden. Wie sollte er auch ahnen, dass die Lösung des Rätsels ganz einfach Liebe hiess? Durch die ineinander verschmelzenden Gefühle der beiden Züge hatte sich eine so gewaltige Kraft entwickelt, dass sie alle Wesen in ihrem Umkreis in ihren Bann gezogen hatte. Auch der Kondukteur im Intercity Nr. 106 hatte nämlich dieses Wunder erlebt, das er sich nicht zu erklären vermochte. Gefühle sind ja nicht tote Gebilde, sondern lebendige Schwingungen, die sich ausdehnen und je nach ihrer Intensität von der Umwelt mehr oder weniger wahrgenommen werden. Diese Wahrheit ist den meisten Menschen leider nicht bewusst, sonst würden sie ihre inneren Regungen wohl besser kontrollieren und so die Umgebung weniger mit Wut, Hass und dergleichen verseuchen.

Auch die Züge wussten nichts von diesem Gesetz. Sie merkten auch nicht, was in ihrem Innern vor sich ging. Sie waren sich nur ihrer gegenseitigen Liebe bewusst, die sie am heutigen Tag endlich einmal viele selige Minuten lang erleben durften. Als der Strom ihre Triebwerke wieder in Bewegung setzte, nahmen sie voneinander Abschied. Sie waren nicht traurig, denn jeder war sich der Liebe des anderen so gewiss, hatte sie so tief in sich aufgenommen, dass er noch lange von diesem Gefühl würde zehren können. Freudig taten sie weiterhin ihre Dienste, zwei ganz gewöhnliche Intercity-Züge auf der Strecke St. Gallen Genf. Oder waren sie doch etwas ungewöhnlich? Allen Kondukteuren, welche diese Züge begleiteten, fiel auf, dass die Passagiere hier besonders friedlich und nett waren und die Wagen von einer deutlich spürbaren Wärme durchdrungen schienen.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
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