„Die kleine Tanne“

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Wie es sich für eine Baumschule gehört, standen sie alle in Reih und Glied: die Bäumchen, die hier aufgezogen wurden, bis sie die geeignete Grösse hatten, um verkauft zu werden. Für jeden Bedarf gab es etwas: einheimisches und exotisches Nadelgehölz sowie Laubbäume in vielfältigster Ausstattung. Schliesslich mussten viele Bedürfnisse abgedeckt werden. Vorlieben der Kunden waren nur eine der Komponenten. Damit die Gewächse ihre Käufer erfreuen konnten, mussten sie für den Standort geeignet sein, folglich für den entsprechenden Boden, die benachbarten Pflanzen, die Dauer der Sonnenbestrahlung und anderes mehr.

Schaute man sich in diesem Betrieb um, wurde einem sofort klar, dass hier Ordnung herrschte und Qualität oberstes Gebot war. So genossen nicht nur die Bäumchen eine erstklassige Pflege, sondern auch die Kunden eine entsprechende Beratung inklusive Spezialservice. Folglich durften alle zufrieden sein, die mit dieser Baumschule zu tun hatten.

Hätte man die Bäumchen selbst befragt, ob dies der Wahrheit entsprach, wären sie alle derselben Meinung gewesen: sie fühlten sich wohl. Nie mussten sie etwas entbehren. Wurden sie von einer Krankheit oder Schädlingen befallen, blieb dies selten lange unbemerkt und wurde dann sogleich behandelt. Damit konnten sich die Gehölze unbeschwert entwickeln und in ihrer ganzen Pracht entfalten.

Besonders aufmerksam wurden die ganz kleinen Pfleglinge gehegt. Dazu gehörten auch die kleinen Tannen, die später einmal Weihnachtsbäume werden sollten. Jetzt mussten sie noch fleissig gewässert werden, damit sie gleichmässig wuchsen. Wenn man sie betrachtete, sahen sie alle gleich aus, gesund und voller neuer Triebe. Und doch war jedes Bäumlein eine eigene kleine Persönlichkeit. Das blieb jedoch den meisten Menschen verborgen. Nur wenige beherrschen die Kunst, die Seele der Pflanzen zu spüren und mit ihr in Kontakt zu treten. Wenn man ganz genau hingeschaut hätte, wäre einem zudem aufgefallen, dass eines der kleinen Geschöpfe nicht mehr ganz so dunkelgrün wirkte wie die anderen. Doch der Unterschied war nur geringfügig. Wer die Energien wahrnehmen konnte, dem war jedoch schnell klar, dass dieses kleine Wesen Kummer hatte. Ach ja, nicht nur wir Menschen kennen dieses Gefühl. Doch was nagte wohl an diesem Herzen?

Bis vor kurzem war die Welt der kleinen Tanne noch völlig in Ordnung gewesen. Zu Beginn eines Lebens, wenn man frisch aus Gottes Schoss gepurzelt ist, besteht noch eine grosse Verbundenheit mit dem Himmel. Man zehrt von den Energien der unendlichen Liebe, die dort herrscht. Doch irgendeinmal kommt der Moment, wo sich das Bewusstsein vollständig der Erde zuwendet und man sich mit dem farbigen Leben hier auseinandersetzen sollte. Das kann wundervoll sein, hat aber auch seine Tücken. Am Anfang hatte sich das Tännchen unbändig auf seine Zukunft gefreut. Aber dann – mit einem Schlag – war ihm plötzlich bewusst geworden, wie es aussah: eintönig grün und stachelig. War das nicht abschreckend? Andere Bäume trugen Blüten oder andere Zierden. Viele hatten zumindest reizvoll gekrümmte Äste, die ihnen eine spezielle Form verliehen. Zudem waren ihre Blätter weich und in keiner Weise verletzend. Selbst langweilige Laubbäume durften einmal im Jahr farbig werden und bekamen im Frühling ein neues Kleid. Was war mit ihm? Es musste mit diesem einzigen, stachligen, immer gleich aussehenden öden Kleid auskommen. Da liess sich gar nichts verändern. Selbst wenn es einmal gross war, würde es nicht wesentlich anders aussehen, im Gegenteil. Die unteren Äste waren dann möglicherweise sogar nackt, ganz ohne Nadeln. Es war einfach die allerhässlichste Gestalt der ganzen Baumschule und würde dies ein Leben lang bleiben. Dieser Gedanke erschien ihm so schrecklich, dass es ihn kaum ertrug. Und deshalb verlor das Tännchen von Tag zu Tag mehr von seiner Vitalität, womit die Nadeln immer heller wurden und teilweise sogar abfielen.

Dieser schlechte Zustand fiel den Betreibern der Baumschule auf und sie wunderten sich, was mit der kleinen Tanne los war. Sie konnten kein Ungeziefer finden, eine Krankheit lag auch nicht vor. Also gaben sie ihr eine gute Portion Dünger. Doch leider können Nährstoffe eine kranke Seele nicht heilen, womit auch diese Extrapflege nicht viel nützte. So bestand das Risiko, dass der arme kleine Tropf bald auf dem Kompost landen würde.

An einem der folgenden Tage schlenderten wie immer etliche Menschen durch die Baumreihen und suchten sich aus, was sie für ihre Zwecke benötigten. Auch Pauline war unter ihnen. Sie hatte vor kurzem ihren Mann verloren und konnte ihre tiefe Trauer nicht überwinden. Oft war sie mit ihrem Ferdinand zusammen durch die Baumschule gebummelt und die beiden hatten sich überlegt, wie sie ihren Garten neu gestalten könnten. Doch bevor ihre Träume eine Umsetzung fanden, war er von der Erde geschieden. Sie selbst hatte den Mut nicht, ein solch grosses Projekt in die Hände zu nehmen. Aber vielleicht könnte sie sich zumindest ein einzelnes Bäumlein kaufen, im Gedenken an ihren Ferdinand. Die Auswahl war jedoch so riesig, dass sie wie erschlagen vor den vielen Gewächsen stand und ihre Idee verwerfen wollte. Da sah sie die kleine Tanne. Voller Bedauern ging sie auf das Bäumlein zu und fragte: „Was ist denn mit dir los, du kleiner Tropf?“

Ein Angestellter, der gerade in der Nähe stand, eilte herbei und beteuerte ihr, dass er ihr einen gesünderen Baum verkaufen könne. Dieser lande wohl im Abfall, etwas sei mit ihm nicht in Ordnung. Da lief Pauline das Herz über und sie sagte mit Bestimmtheit: „Nein, der landet nicht im Abfall. Den nehme ich mit nach Hause. Sagen sie mir den Preis, ich kaufe ihn.“

Zuerst wollte ihn der Angestellte nicht hergeben, denn in diesem Haus wurde nur anständige Ware verkauft. Als aber Pauline auf ihrem Anliegen bestand, gewann das Gebot, die Wünsche des Kunden zu befriedigen, Oberhand. Und so verliess Pauline kurz darauf glücklich mit einem kleinen kranken Tannenbaum im Arm die Baumschule.

Zuhause stellte die Witwe das stachlige Geschöpf auf ihre Terrasse und lächelte zufrieden in sich hinein. Sie wusste, ihr Ferdinand hätte Freude an diesem Kauf gehabt. Sie würde ihr Sorgenkind schon wieder auf die Beine bringen. Schliesslich hatte sie nicht vergebens einen grünen Daumen. Zum ersten Mal seit langer Zeit schlief Pauline in dieser Nacht wieder einmal gut, so dass sie sich am nächsten Tag ausgeruht und beinahe lebensfroh fühlte.

Als erstes trat die Witwe am Morgen auf die Terrasse hinaus, um nach ihrem neuen Zögling zu schauen. Zärtlich strich sie über sein Stachelkleid. Da durchfuhr sie ein tiefer Schauer. Tränen rannen ihr über die runzligen Wangen. Immer und immer wieder strich sie über die grünen Nadeln. Ihr war, als stünde ihr Ferdinand leibhaftig vor ihr. Wie sehr hatte er seinen Dreitagebart gepflegt. Schon zu Beginn ihrer Ehe hatte er seiner Frau klar gemacht, dass er keine Lust hatte, mit dem Gesicht eines Babys herumzulaufen. Am Anfang war dies für Pauline sehr gewöhnungsbedürftig gewesen. Doch mit der Zeit mochte sie das kratzige Gefühl, wenn sie ihren Mann liebkoste. Wieder und wieder strich sie nun über das kleine Tännchen und weinte vor Freude. Hier hatte ihr das Schicksal ganz offensichtlich beigestanden, als sie in der Baumschule vor den vielen Gewächsen gestanden war. Und nun spürte sie noch etwas ganz anderes, während sie den kleinen Baum streichelte: ihr neuer Gefährte schien in seiner Seele genauso verletzt zu sein wie sie. Voller Zuneigung wagte sie zu hoffen, dass sie vielleicht zusammen einen Weg finden würden, ihre Wunden zu heilen.

Nun verging kein Tag mehr, ohne dass Pauline längere Zeit bei ihrer Tanne sass, sie ausgiebig streichelte und mit ihr plauderte. Endlich hatte sie jemanden, mit dem sie all ihr Freud und Leid teilen konnte. Niemand verurteilte sie dafür, dass sie noch trauerte. Keiner machte ihr verhaltene Vorwürfe, wenn sie nicht glücklich aussah. Hier konnte sie sein, wie ihr gerade zumute war und irgendwie spürte sie, dass sie verstanden wurde.

Nach einer Weile begann Pauline, sich Gedanken über die Zukunft ihres Zöglings zu machen. Sehr schnell wurde ihr klar, dass dieser mit der Zeit zu gross für ihren Garten sein würde. Ob sie nicht ein bisschen vorschnell gehandelt hatte? Doch bald hatte sie eine Lösung: Sie würde die Tanne in einen grossen Topf setzen und sie jeden Winter als Weihnachtsbaum benützen. Wenn sie zu mächtig wurde, könnte ihr Sohn sie in seinen Garten pflanzen. Dort war genügend Platz. So könnte ihr kleiner Freund in der Familie bleiben. Voller Freude begann die Witwe, dem Bäumchen von ihren Plänen zu erzählen. Ausführlich schilderte sie ihm, wie sie es an Weihnachten jeweils schmücken würde. Plötzlich hielt sie mitten in ihrem Bericht inne. Ganz erstaunt starrte sie die Tanne an. Ihr war bewusst geworden, dass sie zum ersten Mal an Weihnachten denken konnte, ohne dass sie in helle Panik verfiel. Das Lichterfest ohne ihren seligen Mann erleben zu müssen, war für sie eine schreckliche Vorstellung gewesen. Aber jetzt hatte sie jemanden, mit dem sie den Abend und die nachfolgenden Festtage verbringen konnte. Sie war nicht mehr einsam und verlassen. Zudem fühlte sie sich in wundersamer Art mit ihrem Ferdinand verbunden, wenn sie mit dem kleinen Bäumlein zusammen war. Überglücklich strich Pauline über das grüne Nadelkleid ihres kleinen Freundes. Und plötzlich sah sie es: obschon es bereits winterlich und kalt geworden war, hatte sich die Tanne offensichtlich erholt. Ihr Grün wirkte nicht nur satter als zuvor, sondern – wie ein Wunder – wuchsen sogar neue Triebe, und das zu dieser Jahreszeit.

Ja, was war eigentlich mit unserem Tännchen passiert?

Nachdem Pauline es von der Baumschule mitgenommen hatte und ihm all ihre Liebe schenkte, erfuhr es etwas ganz Neues. Jeden Tag wurde es mit einer Wärme übergossen, die sein verletztes Herz tief berührte. Zudem verursachte sein verschmähtes Nadelkleid jemandem Freude, was ihm eine neue Sichtweise eröffnete. Doch das Wichtigste war wohl, dass es Pauline so viel bedeutete und dass die Witwe auch ihm ans Herz gewachsen war. Sehnsüchtig wartete das Tännchen nämlich jeden Tag auf seine Freundin und freute sich, mit ihr alles Glück und Leid teilen zu können sowie im gemeinsamen Feld der Liebe verweilen zu dürfen. Schon allein diese Momente brachten wieder Licht in das Dunkel der kleinen Seele. Dann aber kam der entscheidende Moment, der den absoluten Durchbruch brachte:

Pauline begann von Weihnachten zu erzählen. Sie malte aus, wie sie zusammen feiern würden. Dann erklärte sie, was Weihnachten überhaupt bedeutete und wie wichtig ihr dieses Fest war. Sie erzählte von früheren Anlässen und beschrieb detailliert, wie sie mit Hingabe ihre Tannenbäume geschmückt hatte. Sie legte auch dar, weshalb die Nadelbäume in die Stuben gestellt und verziert wurden und dass es für sie eine riesengrosse Freude war, nun ein Bäumlein zu haben, das sie jedes Jahr als Weihnachtsbaum benützen konnte. Da erkannte der stachlige kleine Baum, dass ihm offensichtlich gerade dank seines immergrünen Kleides eine ganz besondere Rolle bei den Menschen zukam. Er brauchte kein farbiges Blätterkleid, keine Blüten, keine besonders geformten Äste – nein – er musste genau so sein, wie er war. Nur so konnte er ein perfekter Weihnachtsbaum sein und mit seiner Pauline zusammen in dieser Art eine wunderbare Zeit erleben, von der die Witwe sagte: „Du wirst sehen: dieses Weihnachtsfest wird für uns ein besonders schönes Fest werden, weil wir beide wieder zurück zum Leben gefunden haben. So feiern wir dieses Jahr nicht nur die Geburt von Jesus, sondern auch ein bisschen von uns beiden.“