Die Pfaffenhütchen

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Ein wunderbarer Duft durchzog die Küche: Mmh, etwas Köstlicheres gab es kaum als den Geruch von frisch gebackenen Guezli. Zufrieden betrachtete Karl sein Werk. Auf einem Teller türmten sich die fertigen Pfaffenhütchen. Diese hatte er neu in sein Sortiment aufgenommen. Schon seit einigen Wochen war er nämlich am Proben, welches der verschiedenen Rezepte das Beste sei. Denn Karl wäre nicht Karl, wenn er nicht auch hier ein absoluter Perfektionist wäre. Er liebte besonders die Kekse, welche eine Kombination von Teig und Konfitüre enthielten. Bei den Pfaffenhütchen fand er zudem den Namen und die Form lustig: Teigrondellen wurden mit Konfitüre gefüllt und an drei Seiten zusammengefasst, so dass ein Dreispitz entstand. Nun fand er aber unterschiedliche Rezepte bezüglich Teigzutaten und Füllung. Da er an Weihnachten jeweils seine ganze Umgebung mit den köstlichen Süssigkeiten beschenkte, hatte er den Ehrgeiz, die beste Variante herauszufinden.

Doch je mehr Karl probte, umso schwerer fiel ihm die Wahl. Beinahe jedes Rezept hatte seine Vorzüge. Schliesslich kam der grosse Tag, an dem er den Favoriten krönen wollte. Um die Sache möglichst neutral angehen zu können, legte er von jeder Sorte ein Exemplar auf ein Stück Papier und versah dieses mit einer Nummer, die zu einem Rezept gehörte. Dann schloss er die Augen, schob die Kekse auf dem Tisch hin und her, bis er nicht mehr wusste, wo welche Nummer lag. Nun bildete er eine Reihe und begann sie blind zu degustieren.

Es war spannend, wie völlig anders er die Kekse wahrnahm, wenn er nur noch den Geschmackssinn zur Verfügung hatte und dabei nicht wusste, nach welchem Rezept das entsprechende Gebäck hergestellt worden war. Langsam führte er jeweils einen Keks zum Mund, nahm einen kleinen Bissen, kaute bedächtig, schluckte herunter und liess den Geschmack auf sich wirken. Das Experiment war aber ziemlich schwierig, denn es schmeckte einfach alles wunderbar. Keks eins, Keks zwei, Keks drei und Keks vier waren bereits degustiert und Karl konnte eigentlich keinen Favoriten ausmachen. So biss er nun in die Nummer fünf, auch diese herrlich im Geschmack. Doch überrascht hielt Karl inne: dieser Keks schmeckte irgendwie speziell. Oder war es gar nicht der Geschmack, war es etwas anderes? In ihm entstand ein abgerundetes Gefühl, das bei keinem der anderen Exemplare aufgetaucht war. Irgendwie ging von diesem Keks eine Harmonie aus, die buchstäblich den Körper durchströmte. Erstaunt registrierte Karl diese Empfindung und wendete sich nach längerem Nachspüren noch den Exemplaren sechs und sieben zu. Aber diese liessen sich wieder mit den ersten vier vergleichen: fein, aber nicht irgendwie besonders.

Neugierig öffnete Karl nun die Augen. Er wollte wissen, was Nummer fünf besonders machte. Sofort studierte er die Rezepte, konnte dabei aber keine logische Erklärung finden. Die Nummer drei war in der Rezeptur zwar äusserst ähnlich wie die Nummer fünf, hatte geschmacklich aber einen ganz anderen Effekt. Nachdenklich räumte Karl auf und versuchte sich zu erinnern, ob er beim Backen etwas anders gemacht hatte.

Ja, wann hatte er die Nummer fünf überhaupt gebacken? Er durchforschte seine Agenda und fand auch bald den entsprechenden Tag. Und nun konnte er sich erinnern: Karl sang in einem Chor. Damals übten sie Auszüge aus dem Weihnachtsoratorium von Bach. Das entsprechende Konzert stand kurz bevor. So sang Karl während des Backens hingebungsvoll die verschiedenen Chorstellen und geriet dabei in eine fast ekstatische Weihnachtsstimmung. Er hatte die Weihnachtsbotschaft buchstäblich gespürt. Das Wunder von Christi Geburt hatte ihm förmlich Hühnerhaut verursacht. Er fühlte sich in die Heilige Nacht hineinversetzt, die für Millionen von Menschen eine Verheissung darstellt. Sie alle feiern jedes Jahr Weihnachten, um damit zu bezeugen, dass sie an das Lichtvolle und die Liebe glauben. Er hatte all dies so sehr in sich gespürt, als wären dieses Licht und diese Liebe effektiv durch die Musik in ihn eingeflossen.

Erschüttert hielt Karl inne: war es möglich, dass diese Energie in seinen Keksen gespeichert war? Plötzlich schien ihm dieser Gedanken gar nicht so abwegig: gab es nicht Forschungsarbeiten, durch die bewiesen wurde, dass zum Beispiel Wassermoleküle Informationen aufnahmen und sich dabei ihre Form entsprechend veränderte? Und das Abendmahl? Gründete es nicht auf der Annahme, dass Brot und Wein die Energien von Christus enthielten, weil die Priester sie entsprechend segneten?

Ehrfürchtig stand Karl vor seinen Keksen. Das Rezept schien gar nicht so wichtig zu sein. Vielmehr war es seine innere Haltung während des Backens, die offenbar das Resultat so tiefgreifend beeinflussen konnte.

Ob dies mit allen Dingen im Leben so war? Wirkte sich seine Haltung auf alles so sehr aus? Konnte er sozusagen jederzeit und überall Weihnachten erzeugen? Das würde ja nichts anderes bedeuten, als dass er es in der Hand hätte, mit oder ohne Christuslicht zu leben. Wenn dem so wäre: warum warteten wir eigentlich auf den 24. Dezember, um uns dann lediglich während einiger Tage mit diesem Licht zu befassen? Sollten wir nicht jeden Tag Weihnachten feiern?

Karl atmete tief durch. War es möglich, dass etwas so immens Wichtiges eigentlich so einfach war? Tief berührt betrachtete er die süssen Werke. Ihm war klar: heute war etwas in ihm passiert, das sein Leben verändern würde: die Pfaffenhütchen hatten ihm eine neue Welt eröffnet.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.