Die Schneeflocken

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Im Himmel über den Wolken herrschte geschäftiges Treiben. Ein Schneefall stand bevor, was für die werdenden Schneeflocken stets ein grosses Ereignis war. Schliesslich galt es, sich aus einem Wassertropfen in ein möglichst prächtiges, sternförmiges Gebilde zu verwandeln. Das war eine grosse Kunst, die nicht jeder gleich gut beherrschte. Je nachdem, wie man sich durch die verschiedenen Luftschichten bewegte, erhielt man eine bestimmte Gestalt. Diese sollte, so der Ehrgeiz der Wassertropfen, möglichst prunkvoll sein.

Endlich kam der langersehnte Wind und trieb die unruhige Gruppe ihrem Bestimmungsort auf der Erde zu. Hui, wie das wirbelte! Da musste man schon eine gehörige Selbstbeherrschung an den Tag legen, wenn man durch gekonnte Drehungen seine Form verschönern wollte. Erschöpft, aber dennoch neugierig, landete schliesslich eine Gruppe von Schneeflocken auf einer Tanne. Jeder der weissen Sterne betrachtete seine Gestalt. Argwöhnisch wurde mit dem Nachbarn verglichen. Jeder versuchte, sich noch etwas zu strecken, um seine Spitzen besser zur Geltung zu bringen. O ja, es war ein prachtvoller Anblick, diese glitzernden Gebilde, welche die Äste der Tanne in ein weisses Kleid hüllten. Es wäre wohl auch keinem der vorbeigehenden Menschen in den Sinn gekommen, dass in der friedlich daliegenden Schneedecke heftige Diskussionen und Streitereien in Gang waren.

„Schaut mich an!“ schrie der grösste Schneestern, „mich schlägt niemand! Ich bin der Grösste. Meine Zacken sind wunderbar fein geformt. Ich glitzere wie keiner von euch!“

Das mussten die anderen Schneeflocken zugeben. Eine solche Gestalt schaffte selten einer. Aber war nicht auch ihnen einiges gelungen? Waren ihre Leistungen nicht auch beachtlich und verdienten gebührende Anerkennung?

Überall wurden nun Zacken gezählt und verglichen. Immer wieder wurden am eigenen Leib neue erwähnenswerte Spitzchen gefunden, gleichzeitig jedoch bei den anderen Sternen unbarmherzig Schönheitsmängel aufgedeckt.

Der grosse Schneestern ärgerte sich über seine eingebildeten Kameraden. Merkten die denn nicht, wie kümmerlich sie im Vergleich zu ihm waren? Dauernd musste er auf seine Vollkommenheit hinweisen, die den anderen doch eigentlich die Sprache verschlagen müsste. Aber eben, in ihrer Eingebildetheit schienen sie sich ihrer kläglichen Gestalt nicht einmal bewusst zu sein.

Als sich der grosse Schneestern wieder einmal gewaltig räkelte, um zu einer neuen eindrucksvollen Rede anzusetzen, fiel sein Blick unvermittelt auf die Tannenspitze. Was er da sah, liess ihn erstarren. Seine klug gewählten Worte blieben ihm im Hals stecken. Über sich erblickte er einen riesigen, wundervollen Stern, der in leuchtendem Gold erstrahlte. Der Schneestern nahm nichts mehr wahr von dem, was sich um ihn herum abspielte. Er staunte nur noch dieses wunderbare Gebilde an. Wie klein und schäbig er sich plötzlich vorkam, wie elend und unvollkommen. Eine Stimme riss ihn schliesslich aus seiner Erstarrung. „Was schaust du mich so an?“ fragte der goldene Stern freundlich.

„Warum bist du so schön?“ brach es aus dem Schneestern heraus, „warum bist du so gross und leuchtest so wunderbar?“

„Oh“, meinte der goldene Stern, „die Menschen haben mich gemacht. Sie setzen mich jedes Jahr im Winter für einige Zeit auf diese Tanne. Wie du siehst, befinden wir uns auf einem besonderen Baum, der mit Kerzen und farbigen Kugeln geschmückt ist. Ich werde stets auf die Spitze gesetzt, damit ich weit leuchten kann, um die Menschen daran zu erinnern, dass Weihnachten vor der Tür steht.

“ Erst jetzt bemerkte der Schneestern, dass dies tatsächlich eine besondere Tanne war. Erstaunt fragte er: „Was bedeutet denn Weihnachten?“

„Weisst du“, erwiderte der goldene Stern, „vor etwas mehr als zweitausend Jahren wurde ein ganz besonderer Mensch geboren, der durch seine weisen Worte und seine grosse Liebe die Welt veränderte. Jedes Jahr wird der Geburtstag dieses heiligen Mannes gefeiert, um alle Menschen an seine Lehren zu erinnern. Uns holt man für dieses Fest immer vom Estrich, putzt uns schön und hängt uns an eine Tanne. Da erfreuen wir uns an dem bunten Treiben um uns herum.“

Ungläubig staunte der Schneestern seinen Gesprächspartner an. „Was, du bist nicht immer hier?“

„O nein“, schmunzelte dieser, „die meiste Zeit verbringe ich in einer dunklen Schachtel auf einem Estrich.“

„Wie schrecklich!“ entsetzte sich der Schneestern, deine Schönheit wird nicht beachtet? Du musst einfach so dahinvegetieren, kannst nicht glänzen und strahlen?“

Da begann der goldene Stern herzlich zu lachen. „Oh, warum bedauerst du mich denn so?“ fragte er belustigt. „Klar ist es schön, als Bote einer solch wichtigen Nachricht auf dem Wipfel einer Tanne zu leuchten. Aber glaub mir, es ist nicht weniger schön in unserem dunklen Winkel. Uns wird es nämlich nie langweilig. Es gibt ja so viel zu erzählen! Die Spinnen und Mäuse wissen immer eine Menge Neuigkeiten. Aber auch die Bücher in den anderen Schachteln tragen zur Unterhaltung bei. Ach, wenn du wüsstest, was es auf dieser Welt alles zu sehen gibt! Du brauchst nur Augen und Ohren aufzusperren, schon befindest du dich im herrlichsten, buntesten Treiben. Schau dich doch um, was es alles zu sehen gibt! Horch doch, was all die Tiere und Menschen erzählen!“

Erstaunt stellte der Schneestern fest, dass um ihn herum in der Tat eine Menge passierte. Ganz gebannt verfolgte er das Geschehen in seiner Nähe. Wie hatte ihm das bisher nur entgehen können! Na ja, das war eigentlich nicht schwer zu erklären. Nachdem er sich nur um seine eigene Schönheit gekümmert hatte und darum, die anderen über ihre Mängel aufzuklären, war er völlig blind gegenüber den Wundern in seiner Umgebung gewesen.

Ach ja, die anderen Schneeflocken! Sie stritten sich ja noch immer, plusterten sich auf und zählten ihre Spitzen. Mitleidig hörte der grosse Schneestern dem Gezänk eine Weile zu. Als alle müde schwiegen, begann er, von seinen Beobachtungen zu erzählen, vom Geschehen um ihn herum. Erstaunt wurden sich einige Schneeflocken ihrer Umgebung gewahr und entdeckten, dass rund um sie herrliches, verwirrendes, farbiges Leben pulsierte, von dem sie in ihrer Eingebildetheit nichts wahrgenommen hatten. Immer mehr Schneeflocken vergassen den Streit um ihre Schönheit und verfolgten fasziniert alles, was in ihrer Nähe geschah.

Als die Mittagssonne die wunderbaren Schneesternzacken empfindlich zu verformen begann, beschlich den einen oder anderen zwar ein gewisses Unbehagen, aber der grosse Schneestern lachte, obschon auch sein Glanz erheblich gelitten hatte, und rief: „Wozu unseren Spitzen nachtrauern? Gewiss, sie waren prächtig. Aber stellt euch vor, wenn wir erst einmal Wassertropfen geworden sind! Dann brauchen wir nicht mehr auf dieser Tanne sitzen zu bleiben. Dann können wir durch die weite Welt reisen und noch viel mehr vom Leben erfahren. Löst euch aus eurer Erstarrung! Wir sind da, um zu leben. Stellt euch vor, wie reich wir sein werden, wenn wir wieder im Himmel oben sind. Sperrt Augen und Ohren auf, nützt die Zeit!“

Von der sprühenden Lebensfreude des grossen Schneesterns angesteckt, vergassen die Schneeflocken ihren Kummer, der ihnen ihre vergängliche Form bereitete. Eigentlich hatte der grosse Schneestern ja Recht. Wie armselig mussten sie sich alle vorkommen, wenn sie wieder im Himmel waren und keine Ahnung hatten, wie es eigentlich auf der Erde zugeht. Froh räkelten sie sich an der strahlenden Wintersonne. Sie waren bereit, sich dem Leben hinzugeben. Oh, wie fühlten sie sich plötzlich frei und leicht!

Tief im Herzen dankte der grosse Schneestern seinem goldenen Freund. Hatten sie es nicht ihm, dem Weihnachtsboten, zu verdanken, dass sie endlich begriffen hatten, dass das Leben da ist, um gelebt zu werden? Voller Freude lachten sich die beiden so verschiedenen Sterne an und strahlten in ihrem Glück dermassen hell, dass die vorbeieilenden Menschen geblendet ihre Augen abwandten. Nur ein alter Mann blieb stehen und staunte. Er war der einzige, dem es auffiel, dass die Sonne bereits untergegangen war und wohl kaum die Ursache für diesen hellen Glanz sein konnte. Aber auch er ahnte nicht, dass es allein die Freude war, die ein solch reines Licht zu verströmen vermochte, ein Licht, das jeden im Herzen berührt, der die Wunder des Lebens noch sehen und bestaunen kann.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.