Die Weihnachtskrippe

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Zufrieden hockte die Stubenfliege in einer Ecke des Zimmers. Viele ihrer Artgenossen waren längst erfroren in der klirrenden Kälte, die draussen herrschte. Sie hatte Glück gehabt. Unversehens war sie eines Tages in dieses Haus geraten. Anfangs war sie sich zwar wie in einem Gefängnis vorgekommen und hatte immer wieder versucht, die Freiheit zu erlangen, welche sie dort vermutete, wo es am hellsten war. Doch ihre Flüge hatten stets mit einem schmerzhaften Aufprall gegen etwas Hartes geendet. Als sie kaum noch in der Lage gewesen war, gerade zu fliegen, hatte sie es aufgegeben und sich mit ihrem Schicksal abgefunden.

Mittlerweile konnte sie erkennen, dass ihre Lage eigentlich gar nicht so schlimm war. Nahrung gab es glücklicherweise genug von herumliegenden Esswaren, schmutzigem Geschirr und Abfällen. Ausserdem sorgte der ständige Betrieb von Menschen dafür, dass es ihr nie langweilig wurde.

Die Stubenfliege musste lachen: wie hatte sie doch am Anfang Ängste ausgestanden, wenn sie Menschen in ihrer Nähe wusste! Doch inzwischen waren ihr diese vertraut. Schliesslich kannte sie die Familie auch schon recht gut, die da wohnte: den manchmal etwas reizbaren, aber sonst liebenswerten Vater, die ordentliche und fürsorgliche Mutter, die ältere, eher ernsthafte Tochter Anna und ihre quirlige Schwester Monika. Gerade letztere machte ihr ab und zu die Hölle heiss, indem sie ihr mit einem gefährlich wirkenden langen Ding, das die Menschen ‚Fliegenpatsche‘ nannten, nachstellte. Am Anfang war die Stubenfliege jeweils verzweifelt durch das ganze Zimmer geflogen. Aber inzwischen war sie schlau genug, um sich bei solchen Gelegenheiten in schmale Nischen zu verkriechen und sich ruhig zu verhalten, bis die Gefahr vorüber war.

Ach, wie glücklich schätzte sie sich nun, hier an der Wärme sitzen zu können! In der Regel war sie am liebsten in der Küche. Doch seit gestern hielt sie sich ständig in der guten Stube der Familie auf. Hier war nämlich etwas Sonderbares geschehen: der Vater hatte ein Stück Wald ins Zimmer geholt. Nun stand also tatsächlich eine richtige Tanne da, die von den Eltern mit bunten Kugeln, glitzernden Sternen und anderen wundersamen Gegenständen behängt worden war. Überdies hatte Anna unter dem Baum Holzfiguren aufgestellt, denen sie offensichtlich eine bestimmte Bedeutung beimass. All das fand die Stubenfliege eigenartig. Ihr war, als müsse irgendetwas Besonderes in der Luft liegen. Schon seit einer Weile fand sie nämlich, dass sich die Menschen oft so geheimnisvoll benahmen. Ausserdem roch es ausgesprochen häufig wunderbar nach Gebäck, von dem sie natürlich – wann immer möglich – ein bisschen kostete. Kein Wunder, dass sie dicker geworden war. Aber bei all den vielen Köstlichkeiten konnte sie einfach nicht anders als immer wieder zu naschen.

Plötzlich wurde die Stubenfliege aus ihren Gedanken aufgeschreckt. Monika tanzte laut singend in das Zimmer. „Nur noch einmal schlafen, hurra, dann ist Weihnachten da!“ jubelte die Kleine.

‚Pass auf!‘ wollte ihr die Fliege zurufen, denn das Mädchen wäre beinahe in den bunten Baum gehopst. Aber das Tier wusste bereits aus Erfahrung, dass die Menschen seine Sprache nicht wahrnehmen konnten, was ja auch seine Vorteile hatte. So brauchte es wenigstens nicht dauernd still zu sein.

Erneut versank die Stubenfliege in Gedanken. Morgen sollte also das Besondere endlich geschehen. Sie war schon gespannt, was sie wohl zu sehen bekommen würde. Da es mittlerweile dunkel geworden war, beschloss die Fliege, sich für die Nacht einzurichten. Träge begab sie sich zu den Holzfiguren unter der Tanne und setzte sich auf den Ochsen. Hier wollte sie schlafen, denn das würde ihr ein herrliches Gefühl von Natur und Freiheit geben. Schliesslich hatte sie einen guten Teil ihres bisherigen Lebens auf Kühen und anderen Tieren zugebracht.

Kaum war die Stubenfliege eingenickt, schreckte sie wieder hoch. Was war das? Wo war sie? Was war los? Angestrengt horchte sie in die Dunkelheit hinein. Im Haus war es ruhig. Offensichtlich lagen alle in ihren Betten und schliefen. Aber etwas hatte sie doch aufgeweckt!

Auf einmal merkte sie, dass es unter dem Baum heller geworden war. Ein geheimnisvolles Licht lag über den Holzfiguren und überzog alles mit einem goldenen Schimmer. Und da jetzt sah sie es deutlich bewegte sich etwas. Plötzlich erschien es der Fliege, als würde in sämtliche Figuren Leben einströmen, als erwachten alle aus einer langen Starre. Dabei benahmen sie sich so, wie wenn sie schon immer lebendig gewesen wären. Auch der Ochse begann sich zu regen, und eh sie sich’s versah, wurde sie von seinem Schwanz vom Rücken gefegt. Benommen krabbelte sie in Deckung, um sich dann schliesslich einen sicheren Aussichtspunkt auf einem Ast der Tanne zu ergattern, gerade über den Hirten mit ihren Schafen. Von da aus folgte sie gebannt dem Schauspiel, das sich ihr nun bot.

„Kommt“, rief einer der älteren Männer, „wir wollen dem hellen Licht folgen. Mein Grossvater hat mir immer gesagt: ‚Jonas, sei aufmerksam! Die Geburt eines besonderen Kindes, das die ganze Menschheit bewegen wird, naht. Wenn euch einmal ein unerklärlich helles Licht aus dem Schlaf holt, dann folgt ihm nach!‘ Diese Worte habe ich nie vergessen. Wir wollen ihnen Glauben schenken und uns eilig auf den Weg machen!“

Einige der Hirten murrten und rollten sich nur ungern aus ihren warmen Pelzen. Aber nachdem die Hunde einen schrecklichen Lärm machten und aufgeregt bellend herumliefen, war an Schlaf eh nicht mehr zu denken. Ausserdem war Jonas einer ihrer Ältesten, dem man eine gewisse Ehrerbietung schuldete. Also wurden schnell die wenigen Sachen zusammengepackt und die Gruppe setzte sich in Bewegung, stets dem Licht nach, das sie Richtung Stall führte. Was es dort wohl Besonderes gab?

Neugierig verliess die Stubenfliege ihren Platz und wollte sich auf den Dachgiebel der kleinen Hütte setzen. Doch da wurde ihre Aufmerksamkeit bereits durch eine andere Gruppe gefesselt:

Drei stattliche Männer ritten auf Kamelen daher, und zwar schienen sie einem Stern zu folgen. Schnell suchte sich die Fliege einen geeigneten Aussichtspunkt und starrte auf die merkwürdigen Gestalten, deren Kleider Königswürde verrieten.

„Diesem Stern werden wir folgen, und sollte er uns ans Ende der Welt führen“, sagte der grösste der Männer, der ein ganz schwarzes Gesicht hatte.

„O ja“, erwiderte derjenige, der zuvorderst ritt, „denn alle hatten wir letzte Nacht denselben Traum. Das muss eine Bedeutung haben! Mir schien gestern die Freundlichkeit von Herodes sowieso äusserst merkwürdig. Habt ihr seine Augen gesehen? Sie blickten kalt und berechnend in die Welt. Ihm können wir nicht vertrauen. Ausserdem haben wir alle drei unabhängig voneinander alte Schriften entziffert, die besagen, dass in diesem Monat ein heller Stern die Geburt eines Kindes anzeigen wird, das höchste Königswürden trägt. Also folgen wir diesem Licht, auch wenn es uns ins Ungewisse führt.“

„Du hast recht“, sprach der dritte Mann, „alle Zeichen stehen günstig. Deshalb wollen wir den alten Weisungen vertrauen, selbst wenn sie uns einen ungewöhnlichen Weg zeigen.“

So näherte sich auch diese Gruppe allmählich dem Stall.

Nun musste die Stubenfliege endlich herausfinden, was es dort bei Ochs und Esel zu sehen gab. Die Sache erschien ihr immer merkwürdiger. Rasch begab sie sich in die kleine Hütte und blieb dort erstaunt auf einem Holzbalken sitzen. In der kleinen Krippe lag ein Kindlein. Das hatte sie zwar auch schon gesehen, aber heute war es von einem sonderbaren Licht umgeben. Ausserdem schien es von unzähligen kleinen geflügelten Wesen umschwirrt zu werden, die musizierten und sangen. Die junge Frau, die Anna beim Aufstellen der Figuren ‚Maria‘ genannt hatte, sorgte sich um das frischgeborene Büblein, während der Mann, der wohl Joseph war, vor dem Haus die eben eingetroffenen Hirten begrüsste. Bald erschienen auch die königlichen Männer, die 39 schnell von ihren Kamelen stiegen und ehrfürchtig den Raum betraten. Alle versammelten sich nun um das Baby in der Krippe.

Auf einmal wurde das Licht, welches dieses Kind umgab, immer grösser und heller. Bald sah die Fliege nichts mehr, keinen Stall, keine Menschen und Tiere, gar nichts. Um sie herum war es nur noch hell. Die ganze Welt schien ein einziges Licht zu sein, und aus diesem Licht vernahm die Stubenfliege eine Stimme, die sich zu Worten formte: „Ihr habt mich gesucht, deshalb bin ich zu euch gekommen. Ja, ich bin Christus, der Sohn Gottes, und habe euch eine Botschaft zu überbringen. So vernehmt denn das Folgende: Ihr alle seid Kinder Gottes und deshalb Teil seines ewigwährenden Lichts. Dieses zu finden ist eure Aufgabe, denn erst dann werdet ihr die vernommene Botschaft wirklich verstehen. Auf dem Weg dahin sollen euch meine Worte wie ein Stern die Richtung weisen, euch Trost spenden und die Gewissheit geben, dass ihr nicht vergeblich sucht. In euren Herzen seid ihr stets mit Gott verbunden. Darum werdet ihr dort alle Antworten finden, die ihr für euren Weg braucht. Seid euch gewiss, ihr seid nie alleine gelassen.“

Als sich die Stubenfliege wieder ihrer Umgebung gewahr wurde, sass sie auf dem Balken im Stall. Hatte sie geträumt? Doch dann müsste sie sich auf dem Ochsen befinden, denn dort hatte sie sich bei Einbruch der Dunkelheit hingesetzt, das wusste sie noch ganz genau. Sie blickte sich um. Alles war still. Nichts deutete darauf hin, dass noch vor kurzer Zeit die Figuren lebendig gewesen wären. Oder etwa doch? Das Kind in der Krippe hatte vorher immer ein so ernstes Gesicht gehabt, und jetzt lächelte es. Es schien die Stubenfliege anzustrahlen und ihr zu sagen: „Was du gesehen hast, ist wahr. Vertraue dir, denn auch du bist ein Geschöpf Gottes und lebst in seinem Licht. Meine Botschaft gilt nicht nur den Menschen. Alle Lebewesen sollen sie vernehmen, denn selbst das Geringste unter ihnen wird von seinem Schöpfer nie vergessen. Auch du nicht, kleine Fliege.“

Plötzlich spürte die Stubenfliege eine grosse Freude in sich. Sie wusste, dass sie etwas Wichtiges erfahren hatte, eine Wahrheit, die ihrem ganzen Fliegenleben einen neuen Wert verlieh, denn: konnte dieses geringer sein als ein anderes, wenn alles Leben göttlich war? Glücklich seufzend schloss sie die Augen. Jetzt war ihr klar, weshalb die Menschen Weihnachten feierten. Ob sie diese Botschaft wohl auch vernahmen? Die Stubenfliege wünschte es sich von ganzem Herzen, und weil sie mittlerweile sehr müde war, schlief sie bald über ihren Gedanken ein.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.