Griessbrei und Kartoffeln

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Man kann nie früh genug beginnen, wenn es um die Weihnachtsvorbereitungen geht. Was für einen Privathaushalt gilt, ist für einen grossen Betrieb wie ein Restaurant natürlich absolute Pflicht, wenn alles in geordneten Bahnen verlaufen soll. So kam es, dass bereits jetzt in vielen Betrieben eifrig Konzepte aufgestellt, Menukarten entworfen sowie Dekorationsmaterialien auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft wurden.

Auch im Sternen in Himmelsrieden begann man sich zu rüsten. Maria, die junge Wirtin, seufzte, als sie an das vergangene Jahr dachte. Es war nicht einfach, neben den vielen Gourmetlokalen, die sich in nächster Umgebung befanden, zu bestehen. Der Umsatz während der Weihnachtszeit war nicht gross gewesen, obschon ihr Mann Josef die Speisekarte mit vielen feinen Gerichten versehen hatte: Fondue Chinoise mit verschiedensten Fleischsorten, Saucen und Beilagen, zarte Braten mit viel Gemüse, originelle Dessertkreationen. Doch eben, solches boten die anderen Wirte ihren Gästen offensichtlich auch, aber garniert mit einigen Gault Millau Punkten, welche das junge Paar noch nicht vorweisen konnte.

Wenn es nur um sie beide gegangen wäre, hätte sich Maria nicht solche Sorgen gemacht. Es gab immer Wege. Aber sie war hochschwanger und würde gegen Ende Dezember ihr Kind auf die Welt bringen. Man brauchte folglich für eine gewisse Zeit eine Aushilfe, und das kostete. Zudem belasteten die Geldsorgen die schönste Zeit, die sich Maria im Leben einer Frau vorstellen konnte. Sie empfand es als tiefes Glück, ein kleines Wesen in ihrem Bauch heranwachsen zu spüren. Es war ein grosses Wunder, wie ein neues Leben entstand und schon bald ihr eigenes Leben voll und ganz bestimmen würde.

Seufzend schüttelte die Wirtin die schweren Gedanken ab und beschloss, sich jetzt lieber ernsthaft an die Vorbereitungen zu machen. Es gab ja so vieles zu organisieren. Letztes Jahr bezogen sie beispielsweise einige exquisite Fleischstücke direkt vom Biobauern im Dorf. Das war ziemlich teuer und es fragte sich, ob sich diese Ausgabe lohnte. Andererseits gefiel ihr die Idee, dass auf den Tellern ihres Restaurants hauptsächlich glückliche und gesunde Tiere landeten. Wenn schon solcher Überfluss zelebriert werden musste, sollte er wenigstens tierfreundlich sein. Schliesslich stand Weihnachten für Frieden und Freude, und nicht für Ausbeutung und Quälerei.

Maria stutzte. Wer sagte eigentlich, dass es an Weihnachten so üppig sein musste? Am Ende der Feiertage stöhnten immer alle Leute, dass sie sich darauf freuten, einfach wieder einmal eine Omelette oder geschwellte Kartoffeln zu essen. Niemand fühlte sich mehr so richtig wohl, da man zu reichlich geschlemmt hatte.

Plötzlich zerknüllte Maria den Zettel mit der begonnenen Einkaufsliste. Das war’s: statt den anderen Restaurants nachzueifern, mussten sie ein ganz anderes Konzept erstellen. Sie mussten etwas anbieten, das die anderen nicht hatten. Da diese alle auf hohe Küche setzten, würden sie im Sternen halt einfache Kost anbieten. Weshalb nicht einmal etwas Mutiges wagen?

Die neue Liste, die Maria nun erstellte, sah für ein Restaurant etwas merkwürdig aus. Sie erinnerte eher an den Einkaufszettel einer armen Familie. Neben Kartoffeln wurden grössere Mengen Griess benötigt, dazu Milch und Quark, Früchte und Gemüse, zusätzlich noch eher kleinere Mengen verschiedenster Zutaten. Nun musste sie nur noch Josef von ihrer Idee überzeugen.

So kam es, dass es bereits während der Adventszeit im Sternen ganz merkwürdig zu duften begann. Nicht etwa Fleisch und Pommes Frites bestimmten den Geruch, sondern ein undefinierbares Gemisch von Gewürzen wie Zimt und Nelken sowie von Kartoffeln und gekochtem Brei. Und weil die Menschen von Natur aus neugierig sind, dauerte es nicht lange, bis die ersten Gäste eintrafen. Das Gerücht über das neue Konzept im Sternen hatte im Dorf bereits die Runde gemacht, und weil sich niemand vorstellen konnte, dass es den Wirten mit Kartoffeln und Griess ernst sein konnte, wollten sie sich die Sache persönlich anschauen.

Und siehe da, es gab tatsächlich nur Kartoffeln und Griess, jedoch in unterschiedlichsten Varianten und mit einer Vielzahl von Beilagen. Als sich das erste Erstaunen gelegt hatte, merkten die Leute, dass es ihnen unheimlich viel Spass machte, sich ihr Menu zusammenzustellen. Man konnte bei Suppe beginnen und bei Griessbrei oder Griessköpfli mit verschiedenen Fruchtkompotten aufhören. Man konnte aber auch eine einfache Rösti oder ein paar geschwellte Kartoffeln bestellen und diese mit den unterschiedlichsten Gemüsebeilagen und Quarksaucen garnieren lassen. Es war wie im Schlaraffenland, für jeden Geschmack gab es etwas. Und das Ganze war völlig unkompliziert: Aus einigen Grundgerichten durfte sich jeder etwas zusammenstellen, das ihm gefiel. Und so einfach die Speisen tönten, so waren sie dafür mit umso mehr Liebe und Sinn für das Besondere zubereitet.

Am meisten Absatz fanden die Griessgerichte. Sie dufteten so wundervoll nach vielen verschiedenen Gewürzen, dass einem schon vom Riechen ganz weihnachtlich zumute wurde. Die Erwachsenen fühlten sich in ihre Kindheit versetzt und genossen die einfachen Mahlzeiten fast noch mehr als die Kinder.

Was kaum einer zu glauben gewagt hatte, wurde Wirklichkeit: das neue Konzept funktionierte so gut, dass der Sternen in Himmelsrieden zu einem richtigen Pilgerort wurde. Von weit her kamen die Menschen angereist, um sich von Maria und Josef verwöhnen zu lassen. Die Einfachheit und Schlichtheit in einer Zeit, die von Hektik und Überfluss geprägt ist, empfanden alle als eine grosse Wohltat, so dass es meistens nicht bei einem einzigen Besuch blieb. Die Zeitungen berichteten von dem merkwürdigen Restaurant, sogar ein Fernsehteam wagte sich in den Sternen. So dauerte es nicht lange, bis selbst Gesellschaften aus gehobeneren Kreisen Tische bestellten.

Maria und Josef strahlten vor Glück. Was sie ganz besonders beeindruckte, war jedoch nicht der rege Zulauf, sondern etwas anderes: Es war, als würden die Gäste beim Genuss von Griessund Kartoffelgerichten für eine Weile einfach zu Menschen. Sie verloren ihre vielen Masken und wirkten auf einmal nahbar und natürlich. Selbst bei vornehmen Gesellschaften wurde plötzlich eine Schlichtheit spürbar, welche die Anwesenden zusammenrücken liess. Man kam sich ganz automatisch näher und fühlte sich einfach wohl.

Ohne es zu wollen war es dem jungen Wirtepaar gelungen, die Gäste in richtige Weihnachtsstimmung zu versetzen. Viele Augen begannen im Sternen zu strahlen, überhitzte Gemüter fanden ihre Ruhe und alle genossen den herrlichen Frieden im Restaurant.

Als Maria am 24. Dezember einer Tochter das Leben schenkte, war das Glück des jungen Paares vollkommen. Viele Gäste freuten sich mit der jungen Familie. Die herzliche Atmosphäre im Sternen hatte bewirkt, dass sich etliche hier wie zu Hause und somit mit den Wirtsleuten verbunden fühlten. Folglich hatten Maria und Josef nicht nur ihre eigene kleine Familie gegründet, sondern sie waren sozusagen die Eltern einer sehr viel grösseren Familie geworden: der Familie der dankbaren Gäste, die durch das schlichte, aber liebevoll zubereitete Essen in einer Zeit des immer grösser werdenden Überflusses wieder zu ihrer eigenen inneren Einfachheit gefunden hatten. Dort kamen sie in Berührung mit ihrem inneren Frieden, den sie als ganz besonderes Weihnachtsgeschenk mit nach Hause nehmen konnten. Und wer ihn vorübergehend verlor, reservierte sich einfach einen Tisch im Sternen in Himmelsrieden.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
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