STRESSMUSTER

Einführende Gedanken

Wir Menschen vergessen gerne, dass wir einen hohen tierischen Anteil in uns tragen. Dazu gehören z.B. Reflexe wie der Saugreflex und Instinkte wie der Überlebensinstinkt. Ohne den erstgenannten wäre die Menschheit schon längst ausgestorben. Der Letztgenannte führt unter anderem dazu, dass wir in Extremsituationen Kräfte abrufen können, die wir normalerweise nie aufbringen würden. Zudem ist der Überlebensinstinkt mit vielen Schutzreflexen verbunden. All dies wird automatisch gesteuert, also unterhalb der Bewusstseins-Schwelle. Das bringt – wie wir eben gesehen haben – gewisse Vorteile, hat aber auch Nachteile: wir sind in der Regel nicht in der Lage, Mechanismen, die mit solchen Schaltkreisen in Verbindung stehen, bewusst zu steuern. Wer sich selbst Augentropfen verpassen will, kennt das Problem. Wenn er das Augenlid nicht festhält, wird der Reflex spielen und das Auge verschliesst sich, bevor der Tropfen eine Chance hat, den Augapfel zu benetzen. Das ist an sich eine sinnvolle Einrichtung der Natur, denn so schützt der Körper diesen empfindlichen Teil vor Verletzungen. Schliesslich könnte ja eine kleine Fliege in das Auge gelangen oder ein Ast im Dickicht heranschnellen. So hat jeder Reflex seine Berechtigung.

Überlebensmechanismen des Körper

Sobald es um das Überleben geht, hat der menschliche Organismus eine grosse Anzahl an Interventionsmöglichkeiten. Diese setzt er je nach Art der Bedrohungslage gezielt ein. Möglicherweise ist die körperliche Chemie betroffen (z.B. bei einem Virus oder einem bakteriellen Infekt), vielleicht ist aber auch der Körper als solches bedroht (z.B. bei einem Angriff, Übergriff). Dementsprechend wird eine notwendige chemische Abwehrreaktion erzeugt oder das Individuum muss schauen, wie es den bedrohten Körper retten kann. Letzteres könnte durch Kampf oder Weglaufen gelingen. Wenn beides nicht sehr erfolgsversprechend aussieht, kann man sich totstellen, verfällt also in einen Zustand von Starre. Was auch immer geleistet werden muss: der gesamte Organismus kommt in Bewegung und verändert in verschiedenen Bereichen seine Aktivität. Damit versucht er, eine drohende Gefahr abzuwenden. Wenn alles gut geht und sich das betreffende Wesen wieder in Sicherheit befindet, beruhigt sich die zuvor aufgebaute Aktivität und der Körper bringt sich allmählich in die ursprüngliche Ordnung zurück.

Stresszustände des menschlichen Körper

In einem wesentlichen Punkt unterscheiden wir Menschen uns leider vom Tier: während Tiere zumeist in der Lage sind, ihren Organismus auch nach einer ausserordentlichen Stresssituation wieder in die Balance zu bringen, ist dies beim Menschen nicht unbedingt der Fall. Wird nämlich eine Person von einem Ereignis überwältigt, so dass ihr Körper mit einer hohen Aktivierung reagiert, müssen bestimmte Voraussetzungen gegeben sein, damit wieder eine Entspannung stattfinden kann. Unter anderem muss sich das betroffene Wesen sicher und behütet fühlen sowie Zeit dafür bekommen, den überspannten Zustand langsam zu entladen (meistens durch Schwitzen resp. Frieren, Weinen, manchmal auch durch Schreien, Zittern oder ähnliches). Sind die geforderten Bedingungen nicht erfüllt, wird ein gewisser Stresszustand im Körper bestehen bleiben. Zudem erhält sich die Tendenz, dass bei einem erneuten Stresszustand das ursprüngliche extreme Stressmuster reaktiviert wird, das zum Zeitpunkt des erlebten Stressereignisses aufgebaut wurde. Dazu gehören viele verschiedene Möglichkeiten, die dir liebe Leserin, lieber Leser, möglicherweise teilweise vertraut klingen:

  • Starke Anspannung gewisser Muskelgruppen
  • Probleme mit der Verdauung (meistens Durchfall)
  • Starkes Herzklopfen
  • Probleme mit dem Atmen (in der Regel Atemnot)
  • Innerlich erstarrter Zustand: man fühlt sich wie gelähmt, kann nicht mehr adäquat reagieren (man lässt sich z.B. zu Aktionen überreden, die man gar nicht möchte)
  • Man ist neben den Schuhen bzw. ausserhalb seiner selbst (in der Regel ist man effektiv nicht mehr richtig im Körper, sondern teilweise ausgetreten)
  • Gefühl von Desorientierung, Durcheinander im Kopf, man fühlt sich wie in einem Wirbel
  • Wenn es schwierig wird, läuft man davon/verlässt man die Situation
  • Wut, Aggression, man wird laut, bis hin zu Kontrollverlust und Körperverletzung

Diese Liste ist sicher unvollständig, gibt dir aber eine Idee, was gemeint ist. Dazu kommt noch ein weiterer Faktor:

Stressauslöser

Ein Lebewesen kann nur überleben, wenn es weiss, welche Situationen gefährlich sind und deshalb gemieden werden müssen. Menschen hatten z.B. möglichst schnell zu lernen, welche Tiere eine Bedrohung darstellen und was sie essen dürfen bzw. was giftig ist. Das bedeutet folgendes: wenn bestimmte Ereignisse im Leben eines Menschen mit einer schlechten Erfahrung verbunden sind, ist das im Organismus gespeichert. Sobald die Person in eine ähnliche Situation gerät, werden alle Warnlampen aufleuchten und je nach Situation sogar Gefühle von Lebensgefahr auftauchen. Welcher Art solche Gefühle sind, ist sehr individuell und entspricht in etwa der Liste oben.

Das Problem ist nun folgendes: viele Ereignisse in der frühen Zeit eines Menschenlebens hinterlassen böse Spuren, ohne dass das Leben des Wesens wirklich ernsthaft bedroht gewesen wäre. Dies können Schwierigkeiten des Kindes bei der Geburt sein, aber auch Ereignisse in der Kindheit, welche für das heranwachsende Persönchen dramatisch verliefen. Nicht alles, was wir Erwachsenen locker wegstecken, empfindet das Kind ebenso. Sein Erleben beruht auf seinen individuellen Gefühlen und seinen Möglichkeiten der Verarbeitung. So hinterlassen manche Begebenheiten tiefe seelische Kratzer, welche den Organismus zu einer heftigen Schutzreaktion zwingen. Diese bleibt dann als Reflex erhalten und begleitet die Person ein Leben lang. Obschon sie es nicht will, wird sie in gewissen Situationen immer gleich reagieren und sich möglicherweise damit schaden. Aber der Reflex ist stark und kann nicht ohne weiteres abgestellt werden. Manchmal ist für das Verändern eines solchen Verhaltens sehr viel Arbeit nötig. Doch wie kann eine solche Arbeit aussehen, wenn die Ursache des Übels in so tiefen seelischen Bereichen verankert ist?

Bearbeitung von Stressmustern

Hier möchte ich dir folgendes vorschlagen: arbeite gleichzeitig auf zwei Ebenen.

Ebene 1

Um mit den Verursachern deiner Schutz- und Überlebensmechanismen in Kontakt zu kommen und sie zu bereinigen, bewährt sich die Arbeit mit den Bildern, wie ich sie dir in verschiedenen Formen anbiete, wunderbar. Da wir in diesem besonderen Fall die Probleme der frühesten und frühen Kindheit angehen müssen, lege ich dir die drei entsprechenden Mappen ans Herz: „Geburtstrauma“, „Trauma im Alter von 0-2 Jahren“ und „Trauma im Alter von 2-6 Jahren“. Dabei sollte jede Mappe einmal durchgearbeitet werden. Ein zweiter Durchgang der ganzen Serie kann je nach dem angezeigt sein.

Ebene 2

Die zweite Ebene betrifft dein sichtbares, unerwünschtes Verhalten. Dabei geht es um ein Aufmerksamkeits- und Verhaltenstraining. In einem ersten Schritt muss dir bewusst sein, wann und wo das unerwünschte Verhalten auftritt (was ist der Auslöser? Was passiert dann genau? etc.). Je genauer du die Situation erfasst, umso besser. Anschliessend geht es darum zu versuchen, dieses Verhalten in einfacheren Situationen zu verändern. Je nach dem, um was es sich handelt, müssen die Schritte ganz andere sein. Grundsätzlich soll man mit kleinen Schritten arbeiten und sich gegebenenfalls Hilfe holen (z.B. mit einer Freundin üben, die schmerzende Muskulatur wieder einmal mit fachlicher Hilfe in Angriff nehmen und/oder mit Yoga trainieren, etc.). Suche Strategien, wie du mit der Stresssituation neu umgehen kannst, wenn du sie kommen siehst, so dass die Symptome nicht mehr im gleichen Ausmass auftreten müssen.

Arbeite mit den beiden Ebenen in einem Wechselspiel. Lass dabei auch deine Intuition walten. Vergiss nicht: diese Stressreaktionen sind so sehr Teil von dir geworden und du hast sie schon so lange in dir gehortet, dass du sie nicht so schnell wieder loswirst. Geduld wird also angezeigt sein. Lass nicht locker und lass dich bei Bedarf unterstützen. Es ist nicht nötig, sich als einsamer Kämpfer durch seine ganzen inneren Wirren hindurchzuquälen. Wir Menschen sind nämlich grundsätzlich soziale Wesen. Auch du stehst nicht einsam und verlassen auf dieser Welt. Schöpfe alle Möglichkeiten aus, die sich dir bieten. Sobald die Bilder die erstarrten Schichten in dir aufzulösen beginnen, kann es gut sein, dass sich plötzlich Wege zeigen, wie du mit der ganzen Materie erfolgreich weiterkommen kannst.

In diesem Sinn wünsche ich dir viel Glück für die Arbeit mit deinen Stressmustern.