Weihnachten

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Sauber aufgereiht und geordnet standen die Bücher im Gestell. Jedes hatte seinen festen Platz. Einmal im Jahr wurden sie herausgezerrt und kräftig aneinandergeschlagen, bis sie in eine Staubwolke gehüllt waren. Nach dieser schmerzhaften, aber wohltuenden Reinigung durften sie wieder ihren Platz auf dem blitzblank geputzten Regal einnehmen, um ein weiteres Jahr dazustehen und zu warten, dass sie einmal gebraucht würden.

Doch wer ganz aufmerksam ins Regal schaute und gut hinhörte, der wusste, dass dieses Bild der Ruhe trog. Besonders an langen Winterabenden kam Leben in die kleine Gesellschaft. Schliesslich hatte jedes der Bücher viel zu erzählen. Meistens begann das dicke Lexikon: „Also wisst ihr“, meldete es sich in seinem rechthaberischen Ton, „es ist wirklich gut, dass ihr mich habt. Ein solch langweiliger Abend eignet sich doch ausgezeichnet, um etwas zu lernen. Wir sind noch immer nicht fertig mit dem ‚F‘ und es wäre an der Zeit, über das Wort ‚Frauenverbände‘ nachzudenken.“

Dieser Rede folgte ein Stöhnen, das aus der untersten Reihe des Regals kam.

„Lass uns endlich mit diesem Quatsch in Ruhe“, empörte sich ein Roman von Tolstoi. „Lass uns lieber Geschichten anhören.“

„Ich würde sagen“, meldeten sich nun Goethes gesammelten Werke, „ihr langweilt uns alle beide. Der eine hat zwar einen dicken Bauch vor lauter Wissen, der andere trieft vor rührenden Worten, doch an Weisheit fehlt es euch allen beiden.“

In diesem Augenblick wurde der Streit unterbrochen, denn die Zimmertür öffnete sich. Ein herrlicher Geruch, wie es ihn jedes Jahr nur einmal gab, verbreitete sich im Raum. Es war ein süsser Duft vermischt mit Kerzenrauch. Ein Mann näherte sich dem Büchergestell. Wie nun die Herzen zwischen dem vielen Papier zu klopfen begannen! „Bitte, nimm mich mit!“ flehten viele Stimmen unhörbar.

„Er will bestimmt etwas nachschlagen“, vermutete das dicke Lexikon und plusterte sich noch etwas auf, damit der Mann es ja nicht übersehen konnte.

„Er sucht Zerstreuung“, sagte sich der Roman und reckte sich den suchenden Händen entgegen.

„Er sehnt sich nach Weisheit“, meinten Goethes Werke, denn diese war während der Zeit der kurzen Tage jeweils gefragt, das wussten sie aus Erfahrung.

Doch welch ein Seufzer der Enttäuschung entrang sich den papierenen Seelen, als der Mann nach einem unscheinbaren Büchlein griff, das zwischen Mörikes 45 Gedichten und einem Bildband eingeklemmt war. Kaum war die Türe wieder geschlossen, machten die grossen Bücher ihrer Empörung Luft.

„Dieses magere billige Ding zieht er uns vor“, schnaufte der Gedichtband von Mörike. Er hatte das Gefühl, sein mit Goldbuchstaben verzierter Einband müsse vor Zorn platzen. „Mich nimmt Wunder“, meinte einer der Bände, „was dieser Winzling in dieser besonderen Zeit der Gerüche und Erwartungen zu bieten hat.“ Das sollten die Zurückgebliebenen erst einige Tage später erfahren. Noch ein bisschen schäbiger und abgegriffener wurde das kleine Büchlein an seinen Platz zurückgestellt. Ein seltsamer Glanz umgab es. Grosse Freude und ein tiefer Frieden gingen von ihm aus. Auf die vielen Fragen antwortete es vorerst nicht. Dann begann es langsam und leise zu erzählen, von Kerzenschein und leuchtenden Kinderaugen, von Liedern und andächtigen Worten. Es erzählte auch von hölzernen Figuren, die unter dem geschmückten Tannenbaum neben vielen farbigen Paketen standen und genau zu der Geschichte passten, die der Mann aus ihm vorgelesen hatte.

Ja, diese Geschichte von dem kleinen Kind, das dort so armselig in einem Kripplein gelegen hatte. Ganz still hörten die anderen Bücher zu. Das Lexikon vergass dabei ganz sein riesiges Wissen, der Roman seinen packenden Inhalt und Goethes gesammelte Werke ihre Weisheit. Was sie hörten, das merkten sie, war etwas ganz Besonderes. Es war eine Aufforderung an alle, sich wie die Hirten und Könige auf den Weg zu machen und das Göttliche zu suchen. Tiefer Frieden und weihnachtliche Freude erfüllte all die Bücherseelen. Stolz und Hochmut fielen von ihnen ab. Stille machte einem wunderbaren Weihnachtsgeschenk Platz, nämlich der Ahnung von etwas, das unfassbar wirkt und doch so nahe ist: das Göttliche in Form des Seelenlichtes in den eigenen Herzen.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.