Weihnachtsgeschenke

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin Am liebsten hätte Luisa das hübsch verpackte Geschenk dem Kunden vor die Nase geknallt, so sehr kochte sie innerlich. Doch zum Glück war sie genügend professionell, dass sie freundlich lächelnd den Mann verabschiedete und ihm ein gesegnetes Fest wünschte. Anschliessend liess sie sich erschöpft auf einen Stuhl sinken. Für einen Moment war sie alleine im Laden, was in letzter Zeit eher selten vorkam. Zu dieser Jahreszeit gaben sich die Leute förmlich die Klinke in die Hand, denn alle suchten Weihnachtsgeschenke. Das war ja auch ganz in Ordnung, schliesslich lebte sie davon. Aber Menschen wie dieser Mann waren ihr ein Gräuel. Luisa erkannte ihre innere Haltung bereits, wenn sie den Raum betraten. Alles an ihnen wirkte sachlich. Es schien ihr, als würde bei ihnen das Leben nur aus Fakten bestehen, die im Kopf berechnet und abgeglichen würden.

Das Herz hatte kein oder nur wenig Mitspracherecht. Diese Erdenbürger waren zwar meistens absolut korrekt, aber irgendwie kalt. Sie führten eine Liste im Geist, wen sie zu beschenken hatten. Eilig erfüllten sie diese Pflicht, die ihnen eher lästig zu fallen schien. Entsprechend verliessen sie den Laden oft äusserst erleichtert und fast fluchtartig. Manchmal wendeten sie sich sogar an sie, beschrieben die zu beschenkende Person und überliessen die Wahl des Geschenkes ihr. Sie waren dann einfach froh, wenn die Sache erledigt war und sie mit einem schönen Paket nach Hause eilen konnten. Früher hatte es ihr noch Spass gemacht, solch unbeholfenen Kunden zur Seite zu stehen. Durch gezielte Fragen hatte sie versucht, sich einen Eindruck der Personen zu verschaffen, die beschenkt werden sollten. Daraufhin hatte sie Vorschläge unterbreitet, die ihr passend erschienen. So war nicht selten ein spannendes Gespräch entstanden, mit dem sie es geschafft hatte, das Herz des Schenkenden zu erreichen.

Und schon verliess ein völlig anderes Wesen den Laden als dasjenige, welches ihn betreten hatte. Die Verwandlung war manchmal eindrücklich. Vor allem die Augen sprachen Bände: während sie am Anfang müde und leer gewirkt hatten, blickten sie am Schluss mit einem Leuchten beseelt in die Welt hinaus. Doch im Moment fehlte Luisa einfach dieser Elan, und das dauerte schon eine ganze Weile.

Zum Glück war bald Feierabend, so dass die junge Frau den Laden schliessen konnte. Diese Aggression, die sie eben erst verspürt hatte, war ihr nicht neu. Aber in letzter Zeit trat sie immer häufiger auf. Dabei musste sie doch dankbar sein, wenn ihr Geschäft so gut lief. Sie konnte sich noch an ihre Anfänge erinnern. Mit wenig eigenen Mitteln hatte sie begonnen, Geschenkartikel zu
vertreiben. Ihr war klar gewesen: wenn sie Erfolg haben wollte, musste sie sich von der Masse abheben. Deshalb war es ihr wichtig gewesen, nur sehr ausgewählte Produkte in ihrem Sortiment zu führen. Sie hatte schon immer eine gute Nase für Ausgefallenes gehabt, ganz besonders für Handwerkliches, sei es heimischen oder auch ausländischen Ursprungs. Wo Menschen ihr traditionelles
Kunstwerk pflegten, war Luisa meistens schnell zugegen und knüpfte Kontakte. Sie wollte alles rund um die entsprechenden Traditionen wissen und schätzte ab, wie gut sich die Produkte verkaufen liessen. Dann diskutierte sie mit den Betroffenen über die Möglichkeit einer Vermarktung und stellte entsprechende Pläne auf. Wenn sich alle einig waren, landeten die wundervollsten Artikel als exklusive Einzelstücke in ihrem Verkaufsraum. Offensichtlich schätzten die Leute ein solches Angebot, denn recht schnell war ein ansehnlicher Kundenstamm entstanden und bald florierte das Geschäft. Dies hatte Luisa erlaubt, breiter einzukaufen. Irgendwann war ihr dann bewusst geworden, dass sie durch ihre Arbeit vielen Menschen ein Einkommen sicherte. Gerade in ärmeren Ländern verhalf sie ihren Handelspartnern, deren teilweise verzweifelten wirtschaftlichen Verhältnisse so aufzubessern, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen konnten. In anderen Regionen unterstützte sie Menschen, welche mithalfen, schützenswertes überliefertes Wissen lebendig zu erhalten. Das motivierte sie, alles von sich zu geben, um ihren Erfolg auszubauen.

Doch seit einiger Zeit spürte Luisa einen herben Motivationseinbruch. Plötzlich stellte sie sich Fragen, die ihr neu waren. Anstatt bei jedem verkauften Artikel Freude zu empfinden, dachte sie bei sich, dass dieser Gegenstand sicher schon in unzähligen Ausführungen im entsprechenden Haushalt vorhanden war und einfach zu noch mehr Ballast im Leben führte. Sie hatte ein Bild vor Augen, wie sich die Menschen mehr und mehr mit Materialien zumüllen, bis sie unter ihrem angesammelten Kram förmlich ersticken. Irgendwann entsorgen sie dann alles und produzieren folglich Abfall, der beseitigt werden muss. Bestenfalls wird mit ihm Wärme produziert, die zum Beheizen von Häusern dient. Während ganze Horden herumrennen und sich mit Waren versorgen, hat niemand mehr Zeit, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Mit ihrem Laden sorgte Luisa also effizient dafür, dass die Leute ein Bedürfnis entwickelten, Geschenke zu kaufen, die niemand wirklich brauchte. Vielleicht entstand für einen kurzen Moment eine Form von Freude, dann war er aber auch schon vorbei. Wenn man Glück hatte, war der Gegenstand sogar noch nützlich und wurde regelmässig gebraucht.

Vielleicht bekam er ein schönes Plätzchen zugewiesen. Im schlimmeren Fall war er schlicht und einfach überflüssig. Nüchtern betrachtet half Luisa tüchtig mit, die Leute vom Wesentlichen abzulenken und Abfall zu produzieren.

„Jetzt reicht es!“ dachte Luisa. „Diese ewig gleichen destruktiven Gedanken. Das muss ein Ende haben. Ich muss sie endlich mal zu Ende denken.“ Also machte sie sich eine Tasse Kaffee und setzte sich auf ihren bequemen Stuhl in die Ecke. Sie konnte ja den Laden verkaufen und eine beliebige Stelle annehmen. Damit wäre das Problem für sie gelöst. Aber wäre so die Welt besser? Kaum. Die Leute wären genau gleich gedankenlos. Doch vielleicht müsste sie sich nicht mehr so sehr den Kopf darüber zerbrechen, weil sie ihre Tätigkeit nicht dauernd in Frage stellen würde. Oder war das eine Illusion? War sie in der Lage, die Probleme der Gesellschaft einfach zu verdrängen? Müsste sie nicht vielmehr nach Lösungen für sich selbst suchen? Dann musste sie jetzt einen Schritt weiter gehen: Was wollte sie eigentlich von den Leuten? Was war das Wesentliche, das sie ihrer Meinung nach verloren hatten?

Hier fand Luisa schnell eine Antwort: Die Menschen sollten aufmerksam sein, einander wieder vermehrt wahrnehmen, ihre Herzen öffnen und die Liebe fliessen lassen. Statt der Materialschlacht sollten die Lebewesen und ihr Wohlergehen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Nun, sie könnte ja Pfarrerin werden. Aber da wären die Probleme schon vorprogrammiert: die Kirchenbänke würden bei ihren Predigten wohl leer bleiben. Ihre Begabung war in diesem Bereich ziemlich beschränkt. Hier hingegen füllte sie mit Leichtigkeit ihren Laden.

Da stutzte Luisa. Weshalb denn nicht die Möglichkeiten nutzen, die man hatte? Gab es nicht ein Sowohl-als-Auch? Wie wäre es, wenn sie mittels Verkauf ihrer Geschenkartikel auch die andere Seite in ihren Kunden ein bisschen wachrütteln würde? Sie hätte es ja in der Hand. Es wäre lediglich eine Frage des Konzeptes. Ganz verdutzt von dieser Eingebung sass sie da und betrachtete still ihr Lebenswerk, das sie mit viel Herzblut aufgebaut hatte. Ganz unvermittelt spürte sie wieder diese Liebe, die sie früher beim Betrachten der vielen verschiedenen Unikate auf den Regalen in sich wahrgenommen hatte. Jedes Stück hatte eine Geschichte, die Luisa kannte. Hinter jedem standen Menschen, welche mit Hingabe arbeiteten. Nun war es an ihr, die Seele der Gegenstände lebendig und für ihre Kunden emotional spürbar zu machen. Hier wäre ihr ganzes Geschick gefordert, denn sie müsste mit wenigen Impulsen tiefe Gefühlsschichten des Betrachters berühren. Der Aufwand dafür wäre beträchtlich, aber lohnend: sie könnte beispielsweise jedes Produkt mit Bildern vom Herstellungsprozess versehen. Die Lieferanten würden ihr sicher entsprechendes Material zur Verfügung stellen. Vor ihrem inneren Auge malte sich Luisa bereits aus, wie sie den Laden neu gestalten könnte. Plötzlich war ihr unverständlich, weshalb sie nie offengelegt hatte, dass all die Kunstwerke einmalig waren und einem hohen ethischen Standard entsprachen. In der heutigen Zeit war eine solche Information doch ein absolutes Muss. Hier war also einiges nachzuholen.

Eine weitere Idee durchfuhr sie wie ein Blitz. Wäre es nicht hübsch, ganz kleine Kärtchen mit sinnreichen Sprüchlein zu drucken? Zu jedem Geschenk könnten die Kunden ein solches Kärtchen auswählen. Schon nur dieser Prozess würde sie zwingen, all die Lebensweisheiten zu lesen und einen Gedanken darüber zu verschwenden. Zudem müssten sie abschätzen, welche Worte am besten zu der Person passten, die beschenkt werden sollte.

Bedächtig strich Luisa über eine der neueren Errungenschaften: eine wunderschöne mundgeblasene farbige Glaskugel. Ihr wurde bewusst, dass es ihr früher viel öfter gelungen war, den Kunden mittels persönlicher, einfühlsamer Gespräche – selbst wenn diese nur kurz gewesen waren – ihre Begeisterung und Liebe zu den Kunstwerken weiterzugeben. Irgendwie hatte sie selbst in den
letzten Monaten vergessen, das Wichtigste im Leben zu erfüllen: das Menschliche über alles andere zu stellen. Sie hatte zwar verkauft, aber ohne die Besucher des Ladens in ihren Herzen zu berühren. Folglich sollte sie wohl bei sich selbst beginnen und ab sofort wieder mit vollem Einsatz ihre Arbeit erfüllen. Nur wenn sie dieses menschliche Licht im anderen nährte und gegebenenfalls sogar anzündete, bestand die Möglichkeit, dass diese Person den entsprechenden Funken bei der Übergabe des Geschenkes wieder spürte und somit weitergeben konnte. Und damit erfüllte das Schenken seinen Wert: mit Liebe eine Freude bereiten. Auf diese Art bekam sogar der Gegenstand einen Sinn: er war der Träger einer Erinnerung an Liebe und Freude und strahlte diese Energie entsprechend aus.

Mit einem tiefen Seufzer trank Luisa den letzten Schluck Kaffee. Nun durften die Leute gerne wieder in ihren Laden strömen und Weihnachtsgeschenke kaufen. Ab sofort wollte sie für eine bessere Atmosphäre sorgen. So schnell wie möglich sollten Kärtchen mit Sprüchen aufliegen. Doch das Zentralste: sie musste sich von ihrer Rolle als Verkäuferin verabschieden. Von nun an sollte ihr Verständnis von sich selbst in diesem Laden ein anderes sein. Allerdings war ihr noch nicht ganz klar, als was sie sich genau verstehen sollte. Möglicherweise reichte es, einfach Mitmensch zu sein, der dem Gegenüber unvoreingenommen und mit Herz begegnete. Oder vielleicht müsste sie lediglich sich selbst sein, was immer das bedeutete. Darüber müsste sie wohl noch ein bisschen nachdenken. Doch eines war ihr nun klar: die Grundlage des Gesamten musste stets die Liebe zu allem sein. Sie hatte erfahren, wie es sich anfühlte, wenn dieser Funkie erloschen war. Innerlich blieb alles dumpf und leer. Der Tag wurde abgespult, als wäre man eine Maschine. Erst dieses innere Licht brachte Wärme, Freude und Mitmenschlichkeit in die Welt. Und diese Qualitäten waren in der heutigen Zeit bitter nötig. Folglich wollte Luisa ihre Einsicht sofort in die Tat umsetzen. Ihr Auftrag hier auf Erden war ihr nun klar.