Wie die Kinder Gottes erwachsener werden müssen

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Nachdenklich betrachtete der liebe Gott wieder einmal das Treiben auf der Erde. Was er sah, gefiel ihm teilweise gar nicht, teilweise entlockte es ihm aber auch ein Schmunzeln, selten grosse Freude. Er seufzte tief. Ach, wie er doch seine Kinder trotz allem liebte! Aber er sah ein, dass die ganze Liebe nichts nützte, wenn er ihnen nicht begreiflich machen konnte, dass sie langsam etwas erwachsener werden sollten.

Dass sie davon nichts wissen wollten, war leicht erkennbar, wenn man sah, wie sie sich in ihre Spiele auf Erden vertieften. Sie hatten offensichtlich völlig vergessen, wer sie in Wirklichkeit waren, woher sie kamen und welchen Lebenssinn sie zu erfüllen hatten. Eifrig widmeten sie sich Dingen wie Geld, Lust, Macht und ähnlichem. Dagegen war an sich nichts einzuwenden, denn jedes Kind muss spielen und dabei Erfahrungen sammeln können, damit es sich gesund entwickelt. Doch irgendeinmal kommt der Zeitpunkt, wo es beginnen sollte, Verantwortung zu übernehmen. Und genau hier war der wunde Punkt: die Erdenkinder waren störrisch. Sie wollten sich einfach nicht in ihrem Spiel stören lassen. Nun, der liebe Gott sah ein, dass es wohl seine erzieherische Aufgabe sein würde, hier zu intervenieren. Sein Plan stand bald fest. Nach einer ausführlichen Sitzung mit seinen Engeln konnte es losgehen.

Wieder einmal stand die Weihnachtszeit vor der Tür. Viele Menschen begannen sich auf das Fest vorzubereiten. Überall war Hektik zu spüren, denn jeder wollte bis zum Heiligen Abend noch etliches erledigt haben. Die einen buchten Reisen in die weite Welt, um dem Rummel daheim zu entgehen, die anderen planten grosse Feste, die dritten widmeten sich wohltätigen Zwecken. Jeder verbrachte diese besonderen Tage in seiner eigenen Art und Weise. Dennoch galt für alle, ob sie es wollten oder nicht: Weihnachten beeinflusste überall den Alltag. Dies begann bereits bei alltäglichen Dingen wie dem Einkaufen: es war kaum mehr möglich, in einem angemessenen Tempo durch die Läden zu kommen, denn viel zu viele Leute drängten sich zwischen den verlockend hergerichteten Regalen. Alles war so normal, wie es nur sein konnte, eben eine ganz gewöhnliche Vorweihnachtszeit.

Mitten in dieses bunte Treiben mischten sich nun aber die Schicksalsengel und begannen, ihren Auftrag auszuführen. Und damit brachten sie das Geschehen auf Erden völlig durcheinander: Während es in einigen Teilen der Welt ganz unerwartet zu Naturkatastrophen wie Stürmen und Überschwemmungen kam, waren andere Regionen von Grippeepidemien, wirtschaftlichen Problemen oder anderem betroffen. Kurz: auf einmal wurde die Welt heftig in ihren Grundfesten erschüttert.

Wo es noch ging, versuchten die Menschen, ihren täglichen Trott aufrecht zu erhalten. Doch die Erschütterungen waren zu gewaltig. Nach und nach mussten sie aufgeben. Dabei sahen sie frustriert ihre Träume einer schönen Weihnachtszeit platzen. Weil das Leben aber dennoch weiter ging, blieb ihnen nichts anderes übrig, als den harten Tatsachen in die Augen zu sehen und nach dem ersten Schock neue Pläne zu entwerfen. So musste bei manchen Leuten ein grosses Fest einer Feier im kleineren Kreis weichen. Bei anderen liess sich das traute Zusammensein zu zweit nicht durchführen, weil die Nachbarn bei einem Sturm ihr Zuhause verloren hatten. Wieder andere mussten die Flucht vor dem weihnachtlichen Treiben in die Ferne abblasen, weil wegen politischer Unruhen im Ausland viele Flüge zu riskant geworden waren.

Für die Menschen war es nicht einfach, mit den veränderten Bedingungen zurecht zu kommen. Während es einigen recht gut gelang, begannen andere ernsthaft mit ihrem Schicksal zu hadern. Sie konnten nicht begreifen, dass ausgerechnet vor Weihnachten die ganze Welt Kopf stehen musste. Verbittert und enttäuscht fügten sie sich zwar ins Unvermeidliche, aber gleichzeitig war für sie klar: wenn es einen lieben Gott gab, war es unbegreiflich, dass er so etwas zulassen konnte. Hätte man ihnen gesagt, dass Gott solche Dramen gezielt inszeniert, wären sie empört über solch ketzerische Gedanken gewesen. Es war ihnen unmöglich zu verstehen, dass der Schöpfer in seiner grossen Liebe nichts unversucht lassen würde, um ihren Seelen zu ermöglichen, in ihre wahre Heimat zurück zu finden.

Doch der liebe Gott wäre nun nicht der liebe Gott, wenn er seine Kinder in dieser Situation einfach im Stich liesse. O nein! Er hatte ja gewusst, welche Reaktionen erfolgen würden und folglich seinen Plan entsprechend eingerichtet. Gleichzeitig mit den Tragödien machte er den Menschen nämlich ein grosses Geschenk: Während sie schliefen, kamen die Engel in Heerscharen auf die Erde und verteilten kleine Lichtlein. Diese setzten sie in die Seelen der Erdenbürger, um dort den Funken von Wissen, der in ihnen schlummerte, anzuzünden. Auch wenn viele Menschen keine Ahnung davon hatten: sie trugen alle das göttliche Licht in sich, das ihnen als Wegweiser dienen sollte, in ihre wahre Heimat zurückzufinden. Einige hatten dieses Licht bereits gefunden und gut entfaltet, andere befanden sich noch zu sehr in der Spielphase und dachten nicht daran, einen weiteren Schritt in ihrer Entwicklung vorzunehmen. Auf welcher Stufe sich auch jeder befand: alle erhielten das göttliche Geschenk in reichem Mass.

Und so begann sich plötzlich etwas in der Welt zu verändern. Während die ersten Tage nach dem Eingreifen der Schicksalsengel von Angst, Trauer, Frustration, Unzufriedenheit und Wut geprägt waren, trat allmählich etwas Ruhe in die Herzen der Menschen ein. Sobald sie sich mit der neuen Situation abgefunden hatten, merkten sie erstaunt, dass diese eigentlich gar nicht so schlecht war. Sie entdeckten, dass in ihren Herzen eine Zufriedenheit zu keimen begann, die ihnen neu war. Vor allem der Umstand, an Weihnachten auf vieles verzichten zu müssen, das man bisher als selbstverständlich hingenommen hatte, erwies sich für viele Erdenbürger als wichtiges Erlebnis. Sie erkannten, wie wohltuend es sein konnte, mit wenig auszukommen. Dazu kam der Umstand, dass sich viele Leute gezwungen sahen, sich mit Mitmenschen auseinanderzusetzen, mit denen sie sich vorher nicht gross beschäftigt hatten. Dabei entstand häufig ein Geben und Nehmen, das allen half, Notsituationen zu überbrücken. Dieser Sachverhalt erzeugte ein tiefes Gefühl von Zusammengehörigkeit, welches für viel Wärme in den Herzen sorgte.

Wie gesagt: Da es nun nicht mehr möglich war, das gewohnte Weihnachtsprogramm abzuspulen, rannten die Leute nicht mehr wie irr durch die Gegend, um ihre Programm-Punkte zu erfüllen. Vielmehr blickten sie mit offenen Augen und regem Geist um sich und schauten, wie sie ihren Alltag zusammen mit ihren Mitmenschen zu meistern vermochten. Und genau in diesem Augenblick überzog ein strahlendes Lächeln das Gesicht des lieben Gottes: seine Kinder waren aufgewacht!

Das Weihnachtsfest von diesem Jahr blieb den Menschen noch lange in der Erinnerung haften. Sie wussten, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine wirkliche Weihnacht gefeiert hatten, eine Weihnacht, die diesen Namen auch verdiente. Selbst wenn es noch immer viele Probleme unter den Menschen gab, war doch eine neue Dynamik spürbar. Das neu erwachte Bewusstsein liess sich nicht mehr einsperren. Es war, als würde der Weihnachtsstern dieser besonderen Weihnacht unerbittlich am Himmel stehen und den Menschen sagen: „Schaut, ich bin euch erschienen und werde euch den Weg weisen, immerfort. Weil mein Licht auch in euch entzündet wurde, könnt ihr mich nicht mehr zur Seite schieben. Ihr werdet mir folgen müssen, ob ihr wollt oder nicht. Weihnachten ist jeden Tag, denkt daran!

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.