Es braucht nur ein Ja

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Hier sass er nun also, im Knast. Das hatte er wahrlich nicht gesucht. Oder etwa doch? Irgendwie war er sogar froh gewesen, als die Falle zugeschnappt und er abgeführt worden war. Er hatte Mist gebaut, hatte das Schicksal herausgefordert. Das war ihm bewusst. Und jetzt hatte er den Schlamassel: täglich sah er sich mit Grenzen konfrontiert, die er sich nicht selbst hatte setzen können. Oder vielleicht nicht wollen? Die Mauern der Zelle engten ihn ein. Aber irgendwie wirkten sie auch tröstlich. Ärgerlich schüttelte er den Kopf: Seit wann war er denn sentimental?

Begonnen hatte es schon vor Jahren. Mit viel Einsatz hatte er sich als junger Mann von der Basis in die oberen Etagen hochgearbeitet. Dann, eines Tages, war die Verlockung da gewesen: es war so leicht, ein kleines Bisschen Geld abzuzweigen. Wem tat dies schon weh? Bei diesen hohen Beträgen, mit denen er täglich arbeitete, waren es wirklich nur winzige Summen. Weil alles so einfach ging, wurde er mit der Zeit dreister. Seine Ansprüche begannen zu wachsen, sein neuer Lebensstil war kostspielig. Im Grunde genommen wäre alles nicht nötig gewesen. Wenn er ehrlich sein wollte, hatte er alles, was er sich einmal erträumt hatte: eine liebe Frau, drei reizende Kinder, auf die er echt stolz war, und ein hübsches Häuschen mit Garten.

Verglich er mit dem Standard, den er als Kind genossen hatte, war es paradiesisch. Doch diese Extras – kleine Jacht im Ausland, eine luxuriöse Wohnung hier, ein kleines Ferienhäuschen dort, überall Frauen, die ihn anhimmelten – das alles gab ihm das Gefühl, wichtig und weltmännisch zu sein. Seine Grosszügigkeit verlieh ihm eine Aura der Wohltätigkeit, die ihm schmeichelte. Es war gar nicht einfach gewesen, dies alles zu verheimlichen. Seine Familie hatte schlussendlich akzeptiert, dass er beruflich einfach häufig unterwegs war.

Tja, nun war der ganze Schwindel aufgeflogen. Er sah noch immer die grossen und ungläubig blickenden Augen seiner Frau, als sie ihn holen kamen. Die Kinder taten ihm leid, sie wirkten völlig verschreckt. Sie konnten ja noch nicht verstehen, was da vor sich ging. Mittlerweile hatte sich seine Frau von ihm distanziert, wollte offensichtlich nichts mehr von ihm wissen. Zudem schirmte sie die Kinder völlig ab, so dass er sie nicht mehr zu Gesicht bekam. Das tat weh, denn er liebte sie sehr. Sie waren sein ganzer Stolz. Aber irgendwie konnte er es seiner Gattin nicht einmal verübeln. Vielleicht würde er gleich handeln.

Nun musste er sich mit Gericht, Anwalt und Gefängnisalltag herumschlagen. Das behagte ihm nicht besonders. Vor allem die langen Stunden des Alleinseins, des Nichtstuns, setzten ihm zu. Seine Zelle kannte er inzwischen inund auswendig. Jede Unebenheit der Wände hatte er bereits studiert. Das Muster der Platten auf dem Fussboden hätte er wohl auswendig aufzeichnen können. Die Arbeit in den Werkstätten fand er auch nicht gerade erhebend, aber immerhin erlöste sie ihn von der Eintönigkeit. Das Essen war ordentlich, einfache Hausmannskost eben. Mit den anderen Häftlingen konnte er nicht besonders viel anfangen. Die meisten hatten nur kleine Delikte begangen und waren eher simple Gemüter.

Er seufzte. Und das alles vor Weihnachte. Nicht dass er mit solchen Festen viel am Hut hatte. Aber die Kinder! Ihre Vorfreude, ihre leuchtenden Augen, das alles hatte sein Herz jeweils mit Wärme und Freude erfüllt. Er musste zugeben, dass man sich im Gefängnis Mühe gab. Immerhin waren die Gemeinschaftsräume geschmückt. Aber ihm persönlich brachte solcher Firlefanz nicht viel. Einmal war sogar ein Frauenverein gekommen und hatte einen Adventsnachmittag gestaltet. Im Grunde genommen fand er solche Veranstaltungen dämlich. Um aber der Einsamkeit der Zelle zu entfliehen, hatte er trotzdem teilgenommen. Hinterher musste er zugeben, dass die Frauen es gar nicht so schlecht gemacht hatten. Irgendwie war er anschliessend fast ein bisschen zufrieden gewesen.

Nachdenklich legte er sich auf sein Bett und starrte an die weisse Decke. Was konnte er von seinem Leben noch erwarten? Er war sich bewusst: selbst wenn er seine Haft in einigen Jahren würde abgesessen haben, war seine Zukunft ruiniert. Wer wollte schon etwas mit einem Menschen zu tun haben, der sich die Hände so sehr beschmutzt hatte? Wahrscheinlich endete er dort, wo er begonnen hatte: in ärmlichen Verhältnissen, ohne grosse Aussicht auf irgendwelchen Erfolg, am Rande der Gesellschaft. Ja, so hatte er es in der Kindheit erlebt. Allerdings musste er seinen Eltern zugutehalten, dass sie völlig ehrbare Menschen waren. Die Nachricht über die Entgleisung ihres Sohnes musste sie sehr getroffen haben. Bis jetzt hatte er noch nicht die Möglichkeit gehabt, mit ihnen in Kontakt zu treten. Ob sie dies überhaupt wollten? Und ob er es überhaupt wollte? Er konnte es noch nicht sagen.

Die einzige Person aus seinem Verwandtenkreis, die er bald sehen würde, war seine Schwägerin. Sie war Anwältin und hatte sich sofort eingeschaltet, als seine Verhaftung bekannt wurde. Ausgerechnet sie, gegen die er eine gewisse Abneigung hegte. Deshalb hatte er sie zuerst abgewimmelt, wollte nicht, dass sie sich einmischte. Doch als er erkannte, dass sein Pflichtverteidiger zu nichts taugte, nahm er das Angebot zähneknirschend an. Immerhin war sie eine der Besten in ihrer Branche. Es wäre ja idiotisch, sich gegen eine solche Chance querzustellen.

Doch eben, er mochte sie nicht. Irgendwie konnte er es ihr nicht verzeihen, dass sie seinen Bruder geheiratet hatte. Dadurch war einer seiner besten Kumpel nicht mehr frei verfügbar. Das gab ihm das Gefühl, eine wichtige Vertrauensperson verloren zu haben.

Nun würde er also das zweifelhafte Vergnügen haben, diese Frau zu treffen, und zwar schon in wenigen Minuten. Warum sie dieses Amt auf sich nehmen wollte, konnte er sich nicht erklären. Immerhin war er nun ein pechschwarzes Schaf in der Familie.

Als er geholt wurde, war ihm ein bisschen mulmig zumute. Seine Schwägerin sass schon da, hatte einen Stoss Akten vor sich liegen und blickte ihm freundlich entgegen. Verunsichert erwiderte er ihren Gruss. Wie konnte sie so nett sein? Schliesslich war er nun ein Verbrecher. Doch das schien sie nicht zu beeindrucken. Sofort machte sie ihm klar, dass sie mit ihm zusammenarbeiten wolle und ihr Möglichstes tun werde, seine Strafe in einem tiefen Bereich zu halten. Anschliessend sei sie daran interessiert, seine Reintegration in die Gesellschaft zu begleiten. Sie habe genügend Beziehungen, damit sie ihm dort helfen könne. Völlig perplex schaute er sie an. Wo blieb die Standpauke? Oder zumindest die Verachtung in ihrer Stimme oder ihrem Blick? Oder vielleicht eine unterschwellige Anklage? Da seine Mimik Bände sprach, lachte sie und meinte: „Ich weiss, was du von mir erwartest. Vergiss es! Du bist ein Mensch wie ich auch. Der einzige Unterschied: du hast dich zu etwas verleiten lassen, das dich nun einiges kosten wird. Aber ich weiss, dass das nicht wirklich du bist. Ich weiss, dass du ein guter Kerl bist und ich mag dich halt trotz allem. Immerhin bist du mein Schwager und gehörst zur Familie. Auch deine Eltern teilen diese Meinung. Mit deiner Frau sind wir in Kontakt, sie steht noch unter Schock. Also arbeite an dir und lass den Rest uns machen.“

Dieser „Rest“ war vorerst eine kurze Sache. Sie wollte nur noch einige Fakten von ihm wissen, dann packte sie ihre Papiere wieder ein, setzte den nächsten Termin fest und verabschiedete sich.

Völlig perplex ging er in seine Zelle zurück. In seinem Kopf begann es zu drehen. Und plötzlich passierte etwas, das er seit seiner Kindheit eigentlich nicht mehr gekannt hatte: die Tränen rannen ihm über die Backen. Es wurden fortlaufend mehr und schliesslich kam das Weinen tief aus seinem Bauch heraus. Es wurde immer heftiger und bald schüttelte es ihn richtiggehend. Auf einmal fiel wie eine Lähmung von ihm ab. Es war, als würde er aus einer langen Trance erwachen. Was war nur mit ihm passiert? Wie hatte er sich in so etwas verstricken können? Welche Geister hatten ihn da geritten? Er begann, laut und heftig zu schluchzen. Er konnte einfach nicht verstehen, warum er all dies angerichtet hatte. Er schämte sich zutiefst. Wie konnte er den anderen Menschen je wieder ins Gesicht schauen, oder – noch schlimmer – wie war es möglich, sich selbst wieder ins Gesicht zu schauen? Langsam ebbte der Heulkrampf ab, es wurde ruhiger in ihm. Erschöpft blieb er mit geschlossenen Augen liegen.

Plötzlich sah er die Gesichter der Kinder vor seinem inneren Auge. Sie wirkten so unschuldig und schienen von innen heraus zu leuchten. Dabei konnte er richtiggehend spüren, wie sehr dieses Licht sie an ein Leben, an eine Zukunft glauben liess. Auch wenn ihre Phantasien manchmal ein bisschen unrealistisch waren: es steckte viel Kraft in diesem Glauben, und diese Kraft hatte auch ihn getragen, an eine gute Zukunft glauben lassen. Nun hatte er alles zerstört. Oder vielleicht doch nicht? Gab es vielleicht noch eine Chance? Seine Schwägerin hatte ihm klar und deutlich gesagt, sie würde ihm helfen. Und was diese Frau in die Hände nahm, gelang auch. Davon hatte er sich schon mehrfach überzeugen können. Er musste nur noch ja sagen, ja zu einer Zukunft.

Unvermittelt spürte er ein Sehnen danach, Weihnachtslieder zu hören, Kerzenlicht zu sehen und die Weihnachtsgeschichte zu lesen. War er nun etwa übergeschnappt? Brauchte er vielleicht einen Psychiater? Doch nein, irgendwo, tief in sich spürte er: etwas hatte sich verändert. Er wollte wieder leben und lieben. Er wollte seinen Kindern wieder Vater sein, seiner Frau wieder ein Ehemann. Und dieses Gefühl passte irgendwie zu Weihnachten. Er wusste zwar nicht warum, aber es war ihm auch egal. Es war einfach so. Ab jetzt würde er dieses Fest der Musik, der Lichter und der Verheissungen immer in seinem Herzen tragen. Es war von nun an untrennbar mit seinem Ja zu einem neuen Leben verbunden. Er wusste, dass er einen weiten Weg zu gehen hatte, aber er war bereit dafür. Dieses Licht, das seine Kinder trug, würde auch ihn tragen.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.