Die kunstvolle Kerze

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

„Was für ein Hundeleben“, stöhnte die Kerze. „Wobei: Hunde haben es wahrscheinlich besser als ich!“ Traurig liess sie ihren Docht hängen.

Dabei hatte ihr Erdendasein so vielversprechend begonnen. Sie war durch und durch handgefertigt, und zwar aus qualitativ hochwertigem, duftendem Wachs. Ihr Mantel entpuppte sich als das reinste Kunststück. Er war ein filigranes Werk, das die Weihnachtsgeschichte darstellte. Im Zentrum sah man Maria, Joseph und das Christuskind. Rund um diese Szene gruppierten sich die Hirten mit den Schafen, die Heiligen Drei Könige und viele Engel. Jedes Detail konnte man erkennen, selbst die Fingerchen des göttlichen Säuglings liessen sich zählen. Kurz: diese Kerze war eine herausragende Erscheinung.

Doch nun stand sie schon seit Monaten in einem Raum und verstaubte langsam. Niemand schenkte ihr mehr Beachtung. Nur beim Putzen wurde sie herumgeschoben, aber auch dann eher unsanft. So vegetierte die Kerze dahin, ohne grosse Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Eines Tages gab es plötzlich Bewegung in ihrer Umgebung: Wie bereits im Jahr zuvor wurden einige Gegenstände weggeräumt und durch anderen Schmuck ersetzt. Vor allem unzählige neue Kerzen belegten die nun leer gewordenen Plätze. Allerdings war keine so prächtig wie unsere kunstvolle Diva. Diese begrüsste die Abwechslung freudig, konnte sie doch endlich mit jemandem schwatzen und – was nicht unbedeutend war – ihre Schönheit vor einem Publikum anpreisen. Denn für sie war sonnenklar: niemand konnte es mit ihr aufnehmen. Die meisten Genossinnen waren nämlich sehr simple, maschinell gefertigte Massenprodukte. Sie wusste auch noch vom letzten Jahr, welches Schicksal den bedauernswerten Geschöpfen beschieden war: ganz herzlos zündeten die Menschen ihre Dochte an. Dann brannten die armen Dinger langsam nieder. Übrig blieb am Schluss nur noch ein bescheidenes Häuflein Wachs, das im Abfall landete. Nein, dann war ihr das eigene Dasein schon lieber. Ihr kunstvolles Äusseres machte sie zu einem wertvollen Gegenstand, den man immerhin ein bisschen mehr achtete. So war die Kerze schlussendlich doch noch ganz zufrieden mit ihrem Schicksal.

Bald begann sie die Gunst der Stunde zu nutzen und mit ihren Nachbarinnen zu plaudern:

„Ihr armen Geschöpfe! Wisst ihr eigentlich, was euch beschieden ist?“

Einige von ihnen kannten den Zweck ihres Daseins sehr wohl. Eine Rosafarbene meinte denn auch: „Ja klar. Wir haben die Ehre, den Menschen grosse Freude zu bereiten.“

Etwas verdutzt meinte die kunstvolle Kerze: „Na ja, so kann man das ja auch betrachten.“ Doch dann fragte sie etwas ungläubig: „Macht es dir denn nichts aus, einfach heruntergebrannt zu werden?“

Ruhig entgegnete das rosafarbene Exemplar: „Weshalb sollte es mir etwas ausmachen? Im Gegenteil: ich freue mich auf den Moment, wenn mein Geist wieder frei herumschweben kann und nicht mehr an diesen Wachs gebunden ist.“

Verständnislos blickte die Kerze mit ihrem wertvollen Mantel die Kollegin an. „Wovon sprichst du da? Du bist nichts als ein bisschen Wachs und ein Docht. Wenn du abgebrannt wirst, gibt es noch ein bisschen Rauch und Russ, dann bist du einfach weg. Ein solches Schicksal wünsche ich nicht einmal dir, obschon dein Äusseres ja überhaupt nicht besonders attraktiv ist. Schau mich an: ich bin viel zu wertvoll, als dass man mich einfach so behandeln würde. Mein Mantel ist dermassen kunstvoll, dass ich euch alle bei weitem überrage. Die Menschen achten mich und ergötzen sich an meinen Figuren. Ich bin eben etwas ganz Besonderes. Ihr seid alle nur ein Massenprodukt, wirklich wertlos, zu nichts anderem zu gebrauchen als einfach abgebrannt zu werden, eine traurige Sache.“

Nun schaltete sich eine kleinere Kerze ein. Sie war von einem zarten Hellblau und wirkte eher scheu und still. Ganz leise begann sie zu sprechen. „Liebe Schwester, was dient dir denn dieser Mantel, wenn du dafür an deinen Wachs gekettet bleibst? Wir sind nur für kurze Zeit in diesem Gewand, dann gehen wir wieder in unsere Heimat. Dort geniessen wir eine wundervolle Freiheit, können nach Lust und Laune viele Welten bereisen und je nach unseren Interessen spannende Dinge lernen. Wie traurig muss es doch für dich sein, tagaus tagein hier zu stehen und zu verstauben. Nein: wir erfüllen unsere Pflicht, geniessen den Ausflug zu den Menschen und ihre glänzenden Augen, wenn sie unsere Flammen betrachten. Doch dann erfreuen wir uns wieder unserer Natur in der geistigen Welt.“

Entrüstet meinte die kunstvolle Kerze: „Ihr könnt euch ja gar nicht mit mir vergleichen. Ich bin viel mehr wert als ihr. Mein Los ist ein viel höheres. Ich bin eine richtige Persönlichkeit, während ihr nur Massenware seid. Und dieses Gefasel von Heimat glaubt ihr ja selbst nicht. Das bildet ihr euch nur ein, damit ihr nicht zugeben müsst, wie armselig ihr seid.“ Hochmütig wendete sie sich ab und stand in ihrer ganzen Pracht zwischen den schmucklosen Gefährtinnen.

„Warte nur, bis wir abgebrannt werden“, schaltete sich das rosafarbene Exemplar wieder ein. „Ich werde dich ein Stück weit in die Freiheit mitnehmen, damit du erkennen kannst, dass auch du im Grunde genommen mehr bist als ein armseliges Wachsgebilde.“

Verständnislos schwieg die kunstvolle Kerze und dachte, dass mit diesen verblendeten Verwandten kein schlaues Gespräch möglich war. Sie würden ja dann erleben, was mit ihnen geschah.

Und so kam der Tag, an dem plötzlich viele Menschen im Raum waren und die Kerzen anzuzünden begannen. Wie schon im letzten Jahr konnte die kunstvolle Kerze zusehen, wie ihre Nachbarinnen schrumpften und sich langsam ins Nichts auflösten. Auch wenn sie stolz war: ein solches Schicksal wünschte sie nicht einmal diesen schmucklosen Dingern rund um sie herum.

Doch auf einmal fühlte die Kerze, wie es in ihr einen Ruck gab. Was geschah denn da? Warum fühlte sie sich plötzlich so haltlos? Irgendwie war sie gar nicht mehr ganz mit ihrem kunstvollen Körper verbunden. Ihr war, als beginne sie über ihrer eigenen Gestalt zu schweben. Doch nachdem der erste Schreck nachgelassen hatte, fühlte sie plötzlich eine wundersame Leichtigkeit. Auf einmal hörte sie eine himmlische Musik und sah viele glänzende Lichtlein rund um sich herum. Aus einem dieser Lichter vernahm sie die Stimme der rosafarbenen Kerze: „Hier ist unsere Heimat, liebe Schwester. Erinnere dich, auch du kamst einmal von hier und wirst wieder zu uns zurückkehren. Wann dies der Fall ist, können wir dir nicht sagen. Dein kunstvoller Mantel ist ein grosses Hindernis. Wir haben extra eine Form gewählt, die wir schnell  abstreifen können. So haben wir das Vergnügen, immer nur kurz auf der Welt zu sein, Freude zu bereiten und uns dann wieder unserer herrlichen Freiheit zu erfreuen. Bete darum, dass eines Tages jemand mit dir Erbarmen hat und du angezündet wirst. Dann werden wir dich in unserem Reich begrüssen und dir helfen, dich wieder an deine wahre Natur zu erinnern. Lebe wohl, ich muss dich leider wieder in deinen Kerzenkörper zurückschicken, weiter kann ich dich nicht mitnehmen.“

So fühlte sich die kunstvolle Kerze mit einem Ruck wieder in ihren Wachskörper versetzt, in dem sie nun erneut festsass. Da erfasste sie mit einem Mal eine riesige Sehnsucht. Hatte sie tatsächlich etwas Wichtiges vergessen? Gab es wirklich ein Leben jenseits dieses Wachsgebildes? Der kurze Augenblick der totalen Leichtigkeit war so überwältigend gewesen, dass sie nur noch davon träumen konnte, ihn bald wieder zu erleben. Doch da stand sie nun in ihrer ganzen Pracht. Wie sehr hatte sie sich wegen des kunstvollen Mantels gebrüstet, ihre wertvolle Persönlichkeit hervorgehoben. Nun musste sie erkennen, dass genau dies zu ihrem Problem wurde: Sie war dadurch unfrei. Auf diesem Regal fand sie sich als Sklavin einer Form wieder, die zwar höchst beachtenswert schien, sie aber an den Körper fesselte. Langsam dämmerte es der Kerze, dass ein bescheideneres Äusseres und ein unscheinbares Dasein ganz erhebliche Vorteile haben konnten. Plötzlich sehnte sie sich danach, einfach angezündet zu werden. Die Vorstellung, dass die Gestalten auf ihrem Mantel schmelzen und zusammenfallen würden, kam ihr auf einmal verlockend vor. Sie war bereit, sich von dieser Pracht zu lösen. Sie wollte wieder frei sein. Und in diesem Augenblick kam die Erinnerung zurück, die Erinnerung an ihre Heimat. Sie begann zu verstehen. Glücklich stand sie da und wartete nun ungeduldig auf den Tag, an dem sogar sie das Vergnügen haben würde, den Menschen mit ihrem Leuchten Freude zu machen und gleichzeitig ins Formlose zu verdampfen. Nie mehr brüstete sie sich mit ihrem Mantel und achtete nun auch stets ihre Verwandten, wenn andere Kerzen in der Nähe aufgestellt wurden. Sie wusste jetzt: ein tolles Gewand kann zwar aufregend sein, aber niemals so beglückend wie das Aufgehen im grossen Licht der Heimat.