Die Leiden der Null

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Einträchtig sassen alle Ziffern, also die Zahlen von 0 bis 9, zusammen. Wie gut sie es doch miteinander hatten! Streit gab es zwischen ihnen nie. Wo sie konnten, halfen sie einander, denn sie hatten eine anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen. Es lag nämlich an ihnen, dafür zu sorgen, dass ein Abbild von ihnen erschien, wo immer es nötig war. Und das war häufig, sehr häufig der Fall. Man stelle sich nur schon vor, wenn Schüler einer ganzen Klasse Rechnungen in ihre Hefte schrieben. Da wimmelte es nur so von Nullen, Einsen, Zweiern und so weiter. Vielleicht waren die Ziffern ja auch deshalb so friedlich, weil sie gar keine Zeit hatten, sich um Nebensächlichkeiten zu kümmern.

Heute jedoch begann die Drei plötzlich laut vor sich hin zu sinnieren. „Eigentlich“, so sagte sie, „bin ich eine sehr wichtige Zahl. Ich symbolisiere immerhin die Dreieinigkeit. Kein Wunder, gelte ich fast ein bisschen als heilig.“ „Na ja“, meinte darauf die Sieben, „auch ich habe eine äusserst wichtige Bedeutung. In der Bibel steht, dass die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde. Deshalb habe auch ich grossen Symbolwert.“ „Na und ich erst“, ereiferte sich die Zwei, „ohne die Polarität gäbe es auf dieser Welt gar kein Leben. Schon nur die Erschaffung der meisten Lebewesen beruht auf dem Zusammenkommen von zwei unterschiedlichen Geschlechtern.“ „Und wisst ihr, wofür ich stehe?“ warf die Acht in die Runde, „für die Unendlichkeit.“ „Und ich bin dafür die grösste von uns. Wo ich stehe, bekommen die Zahlen ein Gewicht“, ereiferte sich die Neun.

Während die Ziffern sich überlegten, welche Bedeutungen ihnen eigentlich zukamen, wurde eine von ihnen immer stiller und stiller. Plötzlich brach es aus ihr heraus: „Und ich? Was bedeute eigentlich ich?“ Heftiges Schluchzen folgte. „Ich bin einfach eine Null, eine vollkommene Null! Ich bin ein Nichts. Ohne Begleitung habe ich überhaupt keinen Wert. Mich kann man einfach streichen, wenn nicht eine von euch Ziffern mich begleitet. Mich vermisst man nicht.“ Betroffen schauten sich die Ziffern an. Was die Null sagte, war nicht von der Hand zu weisen. In diesem Sinn hatte sie wirklich keinen Wert.

Während die Null leise vor sich hin schluchzte, begannen die Ziffern nachzudenken, wie sie ihre Kameradin trösten konnten. Die Drei verfluchte sich leise, dass sie laut nachgedacht und damit die ganze Tragödie ausgelöst hatte. Doch passiert ist passiert. Nun galt es, das Beste daraus zu machen.

Aber vorerst gab es ein gehöriges Durcheinander. Die Null fand nämlich, dass es sie in Anbetracht der Dinge nicht mehr brauche. Was keinen Wert hat, kann man wegwerfen. Wieso sollte sie also noch existieren?

Und so kam es, dass plötzlich die ganze Welt Kopf zu stehen begann. Überall, wo eigentlich eine Null stehen sollte, stand nichts mehr. Man stelle sich vor: Banken konnten nicht mehr arbeiten, die Schülerinnen und Schüler standen in der Rechnungsstunde vor Rätseln, Einkaufspreise waren fehlerhaft, Kassen funktionierten nur noch beschränkt, Computer waren unbrauchbar, kurz: es entstand ein Chaos, wie es dies auf der Welt noch nie gegeben hatte. Die Menschen waren ratlos. Einige bekamen es mit der Angst zu tun. Andere bemühten sich, Ordnung zu schaffen. Die Regierungen begannen sofort, Krisensitzungen einzuberufen, was nur teilweise gelang, weil viele Telefonnummern nicht mehr gewählt werden konnten. Erstaunlicherweise blieb es trotz der extremen Notsituation relativ ruhig, weil den Menschen nichts anderes übrig blieb, als sich damit abzufinden, dass sie im Moment gar nichts tun konnten, weil fast alles blockiert war. Und weil sie nichts tun konnten, setzten sie sich zusammen und taten etwas, wozu sie sonst nie Zeit hatten: sie sprachen miteinander, teilten ihre Sorgen und Ängste und halfen einander aus, wo es nötig war.

Mittlerweile versuchten die Ziffern fieberhaft, die Null dazu zu bewegen, ihren Arbeitsstreik zu beenden. Das war aber nicht einfach, denn sie war in eine abgrundtiefe Depression gesunken.

„Schau doch“, beschwor sie die Fünf eindringlich und zeigte ihr eine Wetterstation, „du bist hier äusserst wichtig. Null Grad bedeutet etwas ganz Konkretes, es ist nicht nichts.“ „Genau“, meinte die Vier und war erleichtert über die gute Idee der Fünf. Schnell führte sie die Null auf eine Baustelle. „Auch hier läuft nichts ohne dich. Null ist der Anfangspunkt, wo die Handwerker ihre Metermasse ansetzen. Und dieser Punkt ist notwendig und ganz konkret.“

Gebannt starrten alle die Null an und hofften, dass sie endlich reagieren würde. Man sah, dass es hart in ihr arbeitete und sie sich innerlich ein bisschen aufzufangen schien. Aber ganz überzeugt war sie noch nicht von ihrem Wert. Was bedeuteten schon diese beiden Situationen in Anbetracht der grossen Fülle von anderen Situationen, in denen sie wirklich nichts war. Doch immerhin erholte sie sich soweit, dass sie ihre Arbeit zumindest ansatzweise wieder aufnehmen konnte. Das äusserte sich darin, dass dort, wo eine Null stehen sollte, wenigstens ein schwacher Punkt erkennbar wurde. Das reichte natürlich nicht aus, um die Welt wieder zur Normalität zurückkehren zu lassen. Aber die wichtigsten Angelegenheiten liessen sich so wieder einigermassen erledigen, womit eine Katastrophe vermieden werden konnte.

Verzweifelt suchten die Ziffern nach einer Lösung. Plötzlich kam der Sechs eine gute Idee. „Ich hab‘s“, rief sie, „kommt alle mit, ich will euch etwas zeigen.“

Nach einer kurzen Reise durch die Zeit zurück in die Vergangenheit landeten die Ziffern an einem Ort, wo viele Menschen versammelt waren und einem Mann zuhörten. Dieser bemühte sich, ihnen zu erklären, dass sie durch Habgier und Machtstreben Leiden auf sich ziehen würden. Am Schluss verteilte er Brot und Fische. Erstaunlicherweise bekamen alle etwas zu essen, obschon es am Anfang viel zu wenig davon hatte. Sobald der Mann die Nahrungsmittel den Menschen gab, vermehrten sie sich einfach. Die Szene wechselte. Hier erkannten die Ziffern den selben Mann wieder. Auch diesmal war er von Menschen umringt. Jemand führte einen Blinden zu ihm. Der Mann berührte ihn einfach mit der Hand, worauf der Blinde wieder sehen konnte. Erneut wechselte die Szene. Nun sahen die Ziffern, wie der Mann ein soeben gestorbenes Kind wieder zum Leben erweckte.

Die Ziffern waren beeindruckt. Doch was wollte ihnen die Sechs damit sagen?

„Schaut Euch auch diese Szene noch an, damit ihr versteht“, rief diese und führte sie noch ein bisschen weiter zurück in der Zeit.

Sogleich zeigte sich ihnen ein armseliges Bild: Eine Frau hatte in einem Stall soeben ein Kind geboren. Ihr Mann stand daneben und versuchte zu helfen. Da die beiden absolut nichts zu besitzen schienen, legten sie das kleine Bübchen in die Futterkrippe, die sie zuvor mit Stroh und Heu gepolstert hatten. Die Ziffern verstanden, dass es sich bei dem Kind um den Mann handeln musste, den sie vorher gesehen hatten.

„Seht ihr die Armut? Seht ihr, wie diese Menschen der Gesellschaft absolut nichts bedeuten? Sie haben keinen Wert, müssen im Stall unterkommen, um ihrem Kind das Leben zu schenken. Aber sie beklagen sich nicht. Sie tun einfach, was sie in dieser Situation tun müssen. Erinnert euch nun an die vorherigen Szenen! Ihr habt einen Mann gesehen, der so schlicht gekleidet war, dass er nichts Besonderes darstellte. Er schien keine Ansprüche zu haben, sprach einfach zu den Menschen, weil sie ihm offensichtlich Leid taten. Ihr erinnert euch sicher, dass er betonte, dass wir nicht nach Schätzen auf dieser Erde streben sollen, weil uns dies höchstens Unglück bringt. Wenn wir hingegen nach den Schätzen des Himmels suchten, würden wir Glück erfahren. Ihm war es nicht wichtig, irdischen Reichtum und Macht zu besitzen. Und genau deshalb hatte er beides in hohem Mass, aber eben anders als beispielsweise ein König. Er lebte in einem steten inneren Frieden und Glück, weil er mit den himmlischen Kräften verbunden war. Diese verliehen ihm auch die Macht, viele Wunder zu vollbringen. Ich hoffe, liebe Null, du verstehst meine Botschaft.“

Die Ziffern waren eine Weile alle sehr still und nachdenklich. Plötzlich ertönte ein tiefer Seufzer, dann flossen bei der Null wiederum Tränen, aber diesmal erlösende. Sie hatte verstanden: Wer es schaffte, sich von Wünschen wie Geltungsdrang, Habgier, Machtstreben und dergleichen zu befreien, würde einen inneren Reichtum erfahren, den man nicht kaufen konnte. Dies war allerdings den wenigsten Wesen bewusst, weil sie mehrheitlich ihren Wünschen nachrannten und nicht begriffen, dass sie genau dadurch die angestrebte Erfüllung nie fanden. Innere Bescheidenheit und Demut waren gefordert, damit sich dieses wunderbare Gut in die gesegnete Person ergiessen konnte. Und das Schönste an der Sache war: Sie, die Null, beinhaltete diese für den Menschen so wichtige Botschaft. Oberflächlich betrachtet schien sie wirklich keinen Wert zu haben. Doch ohne sie lief im Bereich der Zahlen gar nichts mehr, womit sie folglich dennoch wichtig war. Vielleicht war sie sogar wichtiger als alle anderen Ziffern: Sie war nämlich die Einzige von ihnen, die das Nichtsein von etwas ausdrücken konnte. Und so viel hatte die Null mittlerweile begriffen: Auch wenn etwas auf den ersten Blick sehr armselig aussah, konnte es bei genauerer Betrachtung von höchster Qualität sein.

Voll tiefer Dankbarkeit und Demut begann sie sogleich, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Und immer, wenn sie das Gefühl der Wertlosigkeit überkam, dachte sie an das Kindlein in der Krippe, das in seiner Armseligkeit bereits den grössten Reichtum in sich trug, den ein Mensch erlangen kann: die absolute Einheit mit den himmlischen Kräften.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
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