Das Christuslicht

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Gehetzt zog sich Monika die Schuhe an, denn sie wollte unbedingt noch einkaufen gehen. Sie musste allerlei Zutaten für die Weihnachtsguezli haben, die sie machen wollte. Die Liste war lang und die Zeit knapp. Morgen war Sonntag. Trotzdem müsste sie früh aufstehen, wenn sie alle Sorten zubereiten wollte, die auf ihrem Plan standen. Während sie sich die Schuhe band, erstellte sie im Kopf einen Ablauf, wie sie alles erledigen könnte. Dann eilte sie aus dem Haus. Natürlich mussten ausgerechnet heute der Laden voll und die Schlange an der Kasse lang sein. Monika begann zu schwitzen. Wie sollte sie das alles nur schaffen?

Wieder zu Hause stellte sie alle Backzutaten auf den Tisch und begann gleich damit, einen ersten Teig herzustellen, der dann bis morgen im Kühlschrank ruhen konnte. Als dies erledigt war, nahm sie ihren Kalender und studierte ihn eingehend. Bis Weihnachten blieben nicht mehr viele Tage. Sie war also genötigt, alles in relativ kurzer Zeit zu erledigen, was noch auf ihrer Pendenzenliste stand. Unter anderem musste sie die Einladungen vorbereiten, die sie jährlich um diese Zeit organisierte. Dabei war es Brauch, dass sie jeweils ein gutes Menü kochte. Alle schätzten ihre Kochkünste, die wirklich beachtlich waren. In Anbetracht der grossen Familie und des nicht minder grossen Freundeskreises gab es eine Menge zu tun. Am Heiligen Abend würde sie dann wohl erschöpft in ihren Sessel sinken und einfach nur noch einige Kerzen anzünden und Musik hören. So war es immer gewesen und so würde es sicher auch dieses Jahr wieder sein. Missmutig legte sie den Kalender beiseite und bereitete noch einen weiteren Teig für den Sonntag zu.

Endlich war alles erledigt und Monika konnte daran denken, zu Bett zu gehen. Es war spät, folglich würde es eine kurze Nacht werden. Müde begann sie sich die Zähne zu putzen und betrachtete sich dabei im Spiegel. Erschrocken schaute sie auf das Bild, das ihr entgegenblickte. Das Gesicht wirkte angespannt, sah eher gräulich aus statt rosig und unter den Augen waren tiefe Furchen und dunkle Ränder. O je, dachte sie bei sich, sie glich ja eher einem Gespenst als einem menschlichen Wesen. Unglücklich spülte sie die Zahnbürste und fuhr fort, ihr Spiegelbild zu betrachten. Sie schüttelte den Kopf. Das konnte es doch nicht sein, das machte doch keinen Sinn! Sie sah nur noch wie ein Schatten ihrer selbst aus und hetzte dennoch weiter von einem zum anderen. Weshalb eigentlich? Ja, weshalb? Was trieb sie dazu?

Bekümmert starrte Monika in den Spiegel, als erwarte sie von dem Gesicht dort drin eine Antwort. Doch diese kam nicht. Folglich war Monika gezwungen, in ihrem Inneren nachzuforschen. Und siehe da: sofort stürzten Fragen auf sie ein:

Weshalb musste sie eigentlich all diese Sorten Guezli backen? Weshalb musste sie all diese Leute einladen? Weshalb musste sie all die Geschenke besorgen und abschicken, all diese Briefe und Karten schreiben? Und das jedes Jahr?

Eigentlich wusste sie es auch nicht. Sie hatte es einfach immer so gemacht und glaubte, dass es sich gehörte, damit die Leute Freude haben oder nicht enttäuscht sind. Schon in ihrer Kindheit hatte sie gelernt, Bräuche zu pflegen, weil das Fest der Familie gebührend zelebriert werden sollte.

Plötzlich wurde Monikas Blick herausfordernd: Und wenn sie jetzt einfach einmal alles anders machen würde? Nur noch das machen, was ihr Spass bereitete? „Das ist egoistisch“, sagte eine Stimme in ihr. Na und? Man musste ja nicht gerade alles über den Haufen werfen, aber vielleicht das ganze Programm entschlacken: weniger backen, weniger Einladungen über die Weihnachtszeit machen, dafür die Menschen während des Jahres einmal einladen. Wieso schrieb sie immer so lange Briefe? Eine Karte würde auch reichen.

In Monika begann ein Kampf. Was war eigentlich richtig? Wer konnte ihr sagen, was sich zur Weihnachtszeit gehörte? Plötzlich erkannte sie klar und deutlich: Niemand konnte es ihr sagen, sie musste es selbst herausfinden.

Perplex schaute Monika auf ihr Spiegelbild. Wenn ihr schon niemand sagen konnte, was richtig und was falsch war, wie konnte sie dann herausfinden, was für sie selbst richtig oder falsch war? Es gab ja Unmengen von Möglichkeiten. Welche sollte sie wählen?

Auf einmal wurde es Monika sehr schwer ums Herz. Wenn sie es sich genau überlegte, hatte sie eigentlich einen grossen Teil ihres Lebens damit verbracht, das einmal Gelernte ohne zu hinterfragen zu wiederholen. Und was war das Resultat dieses Lebens? Von Jahr zu Jahr fühlte sie sich gehetzter, wurde irgendwie unzufriedener und ertappte sich immer öfter dabei, dass sie den tiefen Wunsch hatte, nur noch zu schlafen, weil sie erschöpft war. Irgendetwas lief definitiv schief in ihrem Leben.

An diesem Punkt wandte sich Monika von ihrem Spiegelbild ab und ging traurig zu Bett. Sie war zu müde, um weiter nachzudenken.

Als sie am nächsten Tag aufwachte, war als erstes ein Gefühl da, als habe sie am Vorabend etwas Wichtiges entdeckt. Dann kamen ihr sogleich ihre gestrigen Gedanken in den Sinn. Entschlossen machte sie sich ein Frühstück und versorgte dann alle Backzutaten im Schrank. Nein, sie würde heute keinen Backmarathon veranstalten. Die beiden Teige im Kühlschrank mussten zwar verarbeitet werden, aber das dauerte nicht so lange. Die Briefe würde sie auch nicht schreiben. Morgen wollte sie sich vorgedruckte Karten besorgen. Ja, was sollte sie denn heute machen? Sie beschloss, spazieren zu gehen und sich alles in Ruhe zu überlegen.

Als die Guezli duftend in den Dosen lagen, zog sich Monika warm an und verliess das Haus. Herrlich, diese klare Luft einzuatmen. Bald war sie im Wald. Wie der Schnee unter ihren Schuhen knirschte! Sie fühlte sich unendlich frei. Nein, all die Einladungen würde sie nicht machen, darüber war sie sich nun im Klaren. Verblüfft hielt sie inne. Ja, woher kam denn diese Sicherheit, dass das so in Ordnung war? Monika wusste es nicht. Sie merkte einfach, dass sie sich bei diesen Gedanken gut fühlte und herrlich frei. Ihr Herz öffnete sich und sie hatte den Eindruck, sie verschmelze förmlich mit dem Wald und spüre die Kraft der Bäume in sich. Dieser Zustand fühlte sich an, als wäre sie beschwipst. Sie spürte: da war irgendetwas, dem sie bisher herzlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Es fühlte sich an, als wisse sie genau, wie sie es machen könnte. Erstaunt horchte sie in sich hinein. Weshalb hatte sie dieses Gefühl eigentlich nie wahrgenommen? Die Antwort war einfach: Sie war ja immer der Meinung gewesen, zu wissen, wie es sein musste. Also brauchte sie sich gar nicht zu fragen, wie sie es machen sollte, womit dieses Gefühl gar nicht erst auftauchen konnte.

Die folgenden Tage verbrachte Monika damit, dieses Gefühl zu erforschen und alle ihre Pläne zu hinterfragen. Erst jetzt erkannte sie in aller Deutlichkeit, dass sie bis zum heutigen Tag eigentlich gar nicht richtig gelebt, sondern eher funktioniert hatte.

Die Zeit bis Weihnachten verging wie im Flug und das erste Mal seit Jahren war Monika nicht erschöpft. Sie konnte sich sogar einen kleinen Weihnachtsbaum besorgen und ihn schmücken. Dafür hatte sie viele Einladungen auf die Zeit nach Weihnachten verlegt. Die Weihnachtsguezli hatte sie nach Lust und Laune hergestellt.

Am Heiligen Abend sass Monika ganz alleine und feierlich vor dem Weihnachtsbaum mit den brennenden Kerzen. Dazu lief Weihnachtsmusik, die den festlichen Charakter noch verstärkte. Und zum ersten Mal in ihrem Leben nahm sie sich die Zeit, über den Sinn von Weihnachten nachzudenken. Ja, Christus war geboren, für alle Menschen, auch für sie. Heute fühlte sie sich ihm so verbunden, wie nie zuvor. Verblüfft stellte sie fest, dass wieder das Gefühl über sie kam, das sie ganz am Anfang erlebt hatte, als sie in sich hineinzuhorchen begonnen hatte. War das möglich? Ja warum nicht? Sprach man denn nicht immer vom Christuslicht, das in allen Menschen vorhanden sein soll? Plötzlich wurde Monika ganz ehrfürchtig: War es dieses Christuslicht gewesen, das ihr den Weg gezeigt hatte? War es wirklich wahr, dass es im Menschen lebendig ist und man sich nur mit ihm verbinden musste? Wenn dem so sein sollte: Musste sie sich dann überhaupt noch über irgendetwas Sorgen machen?

Diese Gedanken waren so überwältigend, dass sie unwillkürlich ihre Hände faltete. Nein, gebetet hatte sie nie gross. Sie hätte auch nicht gewusst, wozu. Aber jetzt spürte sie: hier war sie in Kontakt mit etwas ganz Grossem, mit etwas ganz Heiligem. Was war denn Gebet anderes, als den Kontakt mit dieser wunderbaren Kraft zu suchen? Und diese Kraft schien tatsächlich in ihr zu sein. Und sie entdeckte sie erst jetzt!

Eine tiefe Ruhe überkam Monika. Nun hatte Weihnachten eine Bedeutung für sie bekommen: Jesus Christus war zu den Menschen gekommen, um ihnen den Weg zu weisen. Sie musste nur nach dieser inneren Kraft suchen, dann konnte sie diese auch spüren und bekam Antwort auf ihre vielen Fragen. Ganz lange sass Monika in dieser tiefen Erkenntnis. Sie wusste nun, was sie zu tun hatte: sie wollte einen Weg finden, das Christuslicht noch tiefer in ihr Leben einzulassen. Sie wollte lernen, diese Kraft immer in sich zu spüren und sich immer nach ihr zu richten. Dieses Jahr feierte sie wirklich Weihnachten, zum ersten Mal in ihrem Leben.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.