Die Regenbogenfarben

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Liebevoll betrachtete Gott seine Kinder auf Erden. Zugegeben, manchmal waren sie etwas störrisch. Aber es waren seine Kinder, und eines Tages würden sie sich an ihre lichtvolle Heimat erinnern. Ja, im Grunde genommen konnten sie gar nicht anders, als schliesslich wieder zu ihren Wurzeln zurückzufinden, denn sie waren untrennbar mit ihnen verbunden. Ob sie es wussten oder nicht, sie waren und blieben Wesen göttlicher Natur. Und dies, so meinte Gott, sollte man ihnen wieder einmal in Erinnerung rufen.

Die Zeit für ein solches Vorhaben war günstig, denn Weihnachten stand vor der Tür. Damals, vor gut 2000 Jahren, hatte er sie machtvoll zu erinnern versucht, wer sie waren. Auch wenn sie nicht alles verstanden hatten, war ihnen die Wichtigkeit von Jesus‘ Geburt bewusst gewesen. Deshalb zelebrierten sie diesen Tag heute noch und versuchten mehr oder weniger ernsthaft, die damit verbundenen Botschaften zu verstehen.

Gott brauchte nicht lange nachzudenken, wie er die Menschen aufrütteln wollte. Bald stand sein Plan fest und es galt nur noch, Weihnachten abzuwarten.

Auf der Erde verlief währenddessen alles in gewohnten Bahnen. Die übliche Weihnachtshektik bestimmte vielerorts das Leben der Menschen. Gleichzeitig war eine gewisse Besinnlichkeit zu spüren. Alles war so normal, wie es nur sein konnte. Einzig das Wetter spielte verrückt. Es war viel zu warm für die Jahreszeit, was die Menschen aber nicht gross beunruhigte. Doch dies sollte sich bald ändern.

Auf einmal durchzuckten einige grelle Blitze den Himmel. Gleich darauf erschütterte ein Donner von einer ungewöhnlichen Wucht die ganze Erde. Noch einmal blitzte und donnerte es, dann ein drittes Mal. Anschliessend war es totenstill.

Nach den ersten Schrecksekunden blickten die Menschen besorgt zum Himmel. Ein Gewitter? Aber wo blieben die schwarzen Wolken und der Regen? Sie kamen nicht. Stattdessen überzog ein riesiger, wunderschöner Regenbogen den ganzen Himmel. Rund um den Erdball beobachteten die Menschen das gleiche Phänomen. Da sie schon einiges an wettermässigen Turbulenzen gewohnt waren, liessen sie sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Doch als der Regenbogen bestehen blieb, obschon es nicht regnete und an manchen Orten auch die Sonne gar nicht schien, brach eine gewisse Unruhe aus. Besonders in den Regionen, in denen es Nacht war oder eben gerade Nacht wurde, standen die Menschen, aufgeschreckt von den Donnerschlägen, ungläubig vor ihren Häusern und starrten in den Himmel. Fieberhaft wurden Erklärungen gesucht, aber es gab keine. Und so verbreitete sich eine gewisse Ängstlichkeit.

Stand etwa der Weltuntergang bevor? Wenn dies der Fall war: wie sollte man sich da am besten verhalten? Vorsichtshalber begannen viele Leute zu beten. Selbst Atheisten schlossen sich plötzlich betenden Gruppen an, die sich überall zu bilden begannen.

Gott schmunzelte: sein erstes Ziel war erreicht, seine Kinder wendeten sich ihm zu. Nun konnte er Teil zwei seines Planes in Angriff nehmen.

Da die Erdenbürger so sehr in ihre Gebete vertieft waren, bemerkten sie vorerst nichts Aussergewöhnliches. Doch plötzlich durchfuhr es wie eine Windböe die gesamte Menschheit: Überall sah man Männer, Frauen und Kinder, die sich die Augen rieben, um gleich darauf ihre Umgebung anzustarren. Statt des gewohnten Bildes nahmen sie Gegenstände und Lebewesen als farbige, lichtdurchflutete Gebilde wahr. Menschen schauten sich gegenseitig ungläubig an. Jeder schimmerte in seiner ganz eigenen Farbkomposition und strahlte dabei eine grosse Schönheit aus. Selbst diejenigen, mit denen man in Zwietracht lebte, waren von einem solch elfenhaften Aussehen, dass sich zerstrittene Personen fragten, wie sie mit ihrem Gegenüber solche Probleme haben konnten. Wer die Natur vorher bestenfalls als schöne Kulisse empfunden hatte, staunte nicht schlecht, wie lebendig Bäume und Pflanzen plötzlich wirkten. Selbst Steine schimmerten in weichen Farben. Alle, die bisher nicht gewusst hatten, was sie unter einer „beseelten Natur“ verstehen sollten, brauchten keine Erklärungen mehr.

Nachdem das erste Staunen vorüber war, begannen sich einige Menschen zu fragen, ob die Welt untergegangen sei und sie im Jenseits seien. Doch wo war der Übergang gewesen? Und müsste man vom Jenseits nicht erwarten, dass es ein bisschen anders aussähe als die Erde? Hier war aber alles noch genau gleich wie vorher. Der einzige Unterschied bestand darin, dass alles so ätherisch wirkte.

Die Verwirrung war gross, und das weltweit. Doch so schnell, wie der Spuk begonnen hatte, hörte er wieder auf. Langsam nahmen die Menschen ihre Umgebung wieder wie gewohnt wahr. Viele fragten sich nun, ob sie einen Augenblick geträumt hätten. Doch im Austausch mit den andern wurde ihnen schnell klar, dass sie durch eine Erfahrung gegangen waren, die alle Menschen betraf. Und hier war ja auch der Regenbogen, der noch immer am Himmel stand.

Allmählich getrauten sich die Menschen, über das Phänomen nachzudenken. Sie begannen zu erahnen, dass ihnen ein Stück einer grösseren Wahrheit gezeigt worden war. So sehr sie sich alle voneinander unterschieden und so sehr sie sich von Bäumen, Pflanzen und Tieren abhoben, etwas schienen alle Lebensformen gemeinsam zu haben: Sie waren von einem geheimnisvollen farbigen Licht durchdrungen. Dazu kam noch ein weiterer, schwer zu fassender Umstand: jedes noch so hässliche oder ungeliebte Wesen war im Grunde genommen von derselben inneren Schönheit. Wie war das nur möglich?

Angestrengt starrten die Menschen in den Regenbogen, als könnten sie dort die Antwort finden. Doch nun wurde dieser schwächer, denn Gott hatte auch sein zweites Ziel erreicht: seine Kinder hatten begonnen nachzudenken, und zwar nicht über ihre vielen kleinen Sorgen, sondern über sich selbst und ihr inneres Wesen. Es würde schwer für sie sein, die eben gemachten Erfahrungen einfach wieder zu vergessen. Noch lange würde jeder an die wunderschönen Farben denken, wenn er seine Mitmenschen und die Natur betrachtete. Es würde seinen Kindern unmöglich sein, einander mit derselben Kälte wie früher zu begegnen.

Und so war der Keim gelegt, die Botschaft zu verstehen, die bereits Jesus der Menschheit vermittelt hatte: Wir sind alle aus dem gleichen Stoff, denn wir sind alle göttlicher Natur. Weil aber jedes Menschenkind seine ganz besonderen Eigenschaften hat, ist seine Farbkomposition individuell und einmalig. Doch schlussendlich entspringen alle Farben reinem weissen Licht. Und entsprechend liegt allem Lebendigen die Urkraft Gottes zugrunde. Wir sind sozusagen eine riesengrosse Einheit, was wir allerdings gründlich vergessen haben.

Um all die Lebensgeheimnisse voll und ganz zu verstehen, brauchte es noch eine weitere Lektion, dessen war sich Gott bewusst. Aber für diese war es noch zu früh. Später wollte er seinen Kindern ihren innersten Kern aus reinem weissem Licht zeigen. Einzelne konnten ihn schon wahrnehmen. Ihnen gab Gott kleine, innere Lektionen, doch dies geschah noch im Verborgenen. Diese Menschen fühlten in Momenten der Stille einen tiefen inneren Frieden und wussten, dass sie hier einem grossen Geheimnis auf der Spur waren. In ihnen war der Erlöser geboren, nämlich derjenige, der die Menschen aus der Unwissenheit erlöste.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.