Die Christuskerze

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Im kleinen Raum war es ruhig bis auf das Klappern der Schere, die rhythmisch klappernd die Haare abschnitt. Es war ein Arbeitstag wie ein anderer auch. Marco empfing seine Kundinnen und Kunden, wusch ihnen die Haare, schnitt sie je nach Wunsch zurecht, machte Locken und Wellen, färbte und vieles mehr. Obschon sein Salon ganz simpel und einfach mit „Coiffure Marco“ angeschrieben war, arbeitete in diesem Raum ein sehr besonderer Mann. Dies liess sich leicht daran erkennen, dass die Leute lange Wartefristen in Kauf nahmen, um sich bei ihm die Haare machen zu lassen. Wer bei Marco herauskam, konnte darauf zählen, dass seine Haare für die nächste Zeit wunderbar voll und glänzend wirkten sowie kräftig und gut wuchsen. Schuppen und fettige Haare waren nicht zu befürchten, selbst wenn man früher darunter gelitten hatte. Es war, als belege dieser Mann den Haarschopf seiner Kunden mit einem besonderen Zauber.

Sprach man Marco auf sein Geheimnis an, lächelte er sanft und sagte: „Ich spreche einfach mit den Haaren und erkläre ihnen, was ich von ihnen möchte. Haare sind lebendig. Du musst nur ihre Sprache lernen, dann arbeiten sie gerne mit Dir zusammen.“

Was für den Coiffeur so natürlich und normal erschien, war für die anderen Leute eher ein bisschen merkwürdig. Aber weil die Wirkung so gut war, fragten sie nicht lange, sondern nahmen einfach den Service in Anspruch und erfreuten sich ihrer schönen Frisuren.

Es gab aber auch immer wieder Leute, denen Marcos Erfolg keine Ruhe liess. Sie wollten dem Rätsel näher kommen und fragten ihn genauer, was er damit meine, dass er mit den Haaren spreche. Doch meistens zuckte er nur die Schultern und meinte, dass er dies nicht genauer erklären könne. Sie müssten halt zu Hause üben, um die Sprache der Haare zu lernen.

Alfred, ein bereits langjähriger Kunde, spürte, dass Marcos Geheimnis viel mit dem Mann selbst zu tun haben musste. Der eher klein gewachsene Coiffeur wirkte sehr sanft, gleichzeitig aber auch bestimmt und klar. Wenn er sprach, wählte er seine Worte immer mit Bedacht, seine Stimme klang voll und angenehm. Seine Augen glichen tiefen Seen, deren Grund nicht ersichtlich ist. Überhaupt hatte der Mann eine sehr besondere Ausstrahlung. Wenn man eine halbe Stunde bei ihm im Salon gesessen hatte, war nicht nur die Frisur wieder perfekt, sondern man fühlte sich einfach rundum zufrieden und wohl. Hatte man vorher unter Stress gelitten, erfreute man sich nachher einer tiefen und herrlichen Ruhe.

Alfred hatte es bereits aufgegeben, Marco über sein Geheimnis auszufragen. Er sagte sich, dass es ja schliesslich auch Menschen gibt, die mit Katzen, Blumen und anderen Dingen sprechen konnten, und dies mit guten Erfolgen. Weshalb sollte man also nicht auch mit Haaren sprechen können? So besuchte er den Coiffeursalon einfach in regelmässigen Abständen, ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen.

Dies änderte sich allerdings schlagartig, als Alfred eines Tages erfuhr, dass er unter einem Krebsgeschwür litt. Die Ärzte waren besorgt über seinen Zustand und erklärten ihm, dass diese Form des Krebses nicht ganz einfach war und mit teilweise nur mässigen Erfolgen behandelt werden konnte. Alfred war am Boden zerstört, sah sich mit dem möglichen Ende seines Lebens konfrontiert und fühlte sich in der folgenden Zeit wie in einer Trance. In diesem Zustand suchte er wieder einmal den Coiffeursalon auf.

Marco sah sofort, dass mit seinem Kunden etwas nicht stimmte und fragte nach. Da erzählte ihm Alfred sein ganzes Leid. Und weil Marcos innere Ruhe so gut tat, sprudelten all die Sorgen und Ängste der vergangenen Tage aus dem kranken Mann heraus. Schliesslich begann er zu weinen. Der ganze Schmerz floss mit den Tränen auf den Pullover. Marco hörte nur zu und legte bekümmert seine Hand auf die Schulter seines Kunden. Plötzlich hielt Alfred inne und schaute seinen Coiffeur an: „Wenn Du mit den Haaren sprechen kannst, kannst Du dann nicht auch mit so einem Geschwür sprechen? Kannst Du ihm nicht erklären, dass es sich wieder zurückbilden soll?“

Marco wirkte zuerst erschrocken, doch dann blickten seine Augen wie in weite Ferne und er wurde sehr nachdenklich.

„Hör“, sagte er, „ich gebe Dir etwas mit.“ Sogleich öffnete er einen Schrank, entnahm einer Schachtel eine gewöhnliche Kerze und drückte sie Alfred in die Hand. „Zünde sie jeden Tag einmal an und versuche, innerlich in die Ruhe zu kommen während Du in die Flammen schaust. Ich kann nicht mit Deinem Geschwür sprechen, aber ich kann Dir vielleicht helfen, dass Du es selbst lernen kannst.“

Alfred war so verwirrt über seine eigene spontane Idee und die Reaktion des Coiffeurs, dass er ohne weiter nachzufragen die Kerze nahm und den Salon verliess. Zu Hause erschien ihm das Ganze etwas merkwürdig, aber nach einigem Hin und Her entschloss er sich, dem Rat von Marco zu folgen. Dabei spürte er, dass er jedes Mal, nachdem er die Übung gemacht hatte, einen tiefen Frieden empfand. Allmählich liess die innere Verzweiflung nach und Alfred wurde fähig, objektiv und mit innerer Gelassenheit über seinen Zustand nachzudenken. Dabei spürte er plötzlich, dass er noch leben wollte. Ja, er wollte diese Krankheit besiegen. Sogleich begann er sich damit zu befassen, welche zusätzlichen Möglichkeiten der Behandlung bestanden. Dabei spürte er auf einmal eine Kraft in sich, die ihm völlig neu war. Die ganze Auseinandersetzung mit der Krankheit und mit seinem Leben öffnete ihm zudem die Augen dafür, was wichtig im Leben ist und wo er Dingen nachrannte, die ihm zwar vielleicht kurzfristig einige Glücksmomente bescherten, welche aber nicht von Bestand waren.

Als die Kerze abgebrannt war, holte er sich im nächsten Laden eine ähnliche und führte die Übung fort. Aber merkwürdig, die Wirkung war nicht mehr dieselbe. Sogleich suchte er Marco auf und erzählte ihm von seinen Erfahrungen. Marco lächelte erfreut, dachte dann kurz nach und meinte schliesslich: „Ich selber kann nicht mit deinem Krebs sprechen, das sagte ich dir bereits. Aber es gibt eine Kraft, die ist immer für uns da, wo wir selber nicht mehr weiter kommen. Ich bat einfach diese Kraft, sich über diese Kerze mit dir zu verbinden und dir zu helfen. Und weil ich als Christ aufgewachsen bin, wende ich mich in solchen Fällen an Jesus Christus, mich oder andere mit dieser Kraft zu segnen. Je länger ich lebe, umso mehr kann ich erfahren, dass ich nie im Stich gelassen werde, wenn ich Hilfe nötig habe. Nun hast auch du dieses Wunder erfahren. Gerne gebe ich dir noch eine Kerze mit. Aber vielleicht möchtest du nun selber nach dieser Kraft suchen, die du bereits gespürt hast. Du musst deinen Wunsch nur dem Universum mitteilen. Es wird dir dann den Weg weisen, wie du diese Kraft, die auch Christuslicht genannt wird, in deinem Leben erleuchten lassen kannst.“

Sehr nachdenklich verliess Alfred mit der neuen Kerze den Salon. Obschon ihm die ganze Sache ein bisschen simpel erschien, musste er zugeben, dass sie Wirkung hatte. Waren seine abschätzigen Gedanken über alles, was irgendwie mit Gott zu tun hatte, vielleicht doch falsch? Musste er vielleicht anerkennen, dass es tatsächlich einmal einen Jesus gegeben hatte und dieser Jesus auch ihm, dem modernen Alfred, noch etwas zu sagen hatte? Während der folgenden Weihnachtstage setzte sich Alfred intensiv mit Gott auseinander und begann dabei zu verstehen, was Marco mit dem Christuslicht gemeint hatte. Es war ihm, als verstehe er zum ersten Mal in seinem Leben, weshalb wir Weihnachten feiern. Der Name Jesus Christus blieb nicht mehr eine leere Worthülse für ihn. Vielmehr konnte er nun akzeptieren, dass einmal ein Mann gelebt haben musste, der mehr über das Geheimnis des Lebens gewusst hatte als die anderen Erdenwesen. Dieser Mann hatte versucht, sein Wissen mit seinen Mitmenschen zu teilen. Dies war ihm wohl nur teilweise gelungen. Immerhin hatte aber die Kraft, welche in diesem Wissen liegt, die Menschen so sehr beeindruckt, dass sie dadurch dem Christuslicht, das im Prinzip unser Seelenlicht ist, wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken begannen. Doch jeder einzelne muss den Weg selbst finden und gehen, muss sich für sein inneres Licht öffnen und langsam erkennen, wer er in Wirklichkeit ist. Hält er dieses Licht im Zentrum seines Herzens wach, kann er fortwährend aus einer Quelle schöpfen, die Stärke, Mut, Weitblick und vieles mehr zum Gedeihen bringt.

Und genau dies erfuhr Alfred nun bei sich selbst. Dankbar zündete er die Kerzen von seinem Weihnachtsbaum an. Gerade gestern hatte er vom Arzt erfahren, dass der Krebs sich unerwartet schnell zurückgebildet hatte. Die Chance auf Heilung stand gut. Alfred wusste, dass dies nicht nur auf die Medikamente zurückzuführen war. Hier spielte eine andere Kraft mit. Und dieser wollte er jetzt in seinem Leben mehr Raum geben. Dieses Christuslicht war ihm zwar noch ein Rätsel, aber er wusste heute immerhin, dass es existierte. So feierte er an diesem Weihnachtsfest die Geburt seines eigenen Christuslichts, das so lange Jahre verschüttet gewesen war.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.