Der kleine Stern

Eine Weihnachtsgeschichte von Susanna Sarasin

Hätte vor 2000 Jahren jemand den Nachthimmel ganz genau betrachtet, wäre ihm etwas Sonderbares aufgefallen: er hätte nämlich einen länglichen Stern entdeckt. Ja, in der Tat, kein heller Punkt leuchtete dort am Himmel, sondern ein kleines Oval störte Nacht für Nacht die Ordnung der Sterne. Hätte man noch etwas genauer hinsehen können, was mit den damaligen technischen Mitteln nicht möglich war, hätte man eine eigenartige Beobachtung machen können: Der merkwürdige Stern war gar nicht wirklich oval. Er sah nur so aus, weil er ganz schief am Himmel hing. Dafür hatte er seinen guten Grund:

Unser Stern war nämlich noch ein recht kleiner Stern, der sehr neugierig war. Als ihn der liebe Gott zu den anderen Sternen ans Himmelsgewölbe gesetzt hatte, war er sehr stolz gewesen, nun endlich zu den Grossen zu gehören. Doch ach, wie bald war es ihm hier langweilig geworden. Jede Nacht musste er still am selben Fleck stehen. Seine älteren Artgenossen unterhielten sich lebhaft und schienen es lustig zu haben. Er aber wurde Nacht für Nacht unruhiger. Etwas hatte seine Neugier geweckt und liess ihn nun nicht mehr los.

Einmal war dem kleinen Stern nämlich aufgefallen, dass es tief unter ihm auch Lichter gab. Diese waren zum Teil farbig, manche bewegten sich sogar. Man hatte ihm dann erzählt, dass dies die Erde sei und dass Menschen darauf wohnten. Seither schaute er sich fast die Augen aus dem Sternenleib, um möglichst viel von dieser Erde sehen zu können. Dabei verrenkte er sich förmlich und beugte sich so weit wie möglich nach unten. Ab und zu wurde er von einem älteren Stern getadelt, andere lachten ihn einfach aus und prophezeiten ihm, dass er noch einmal kopfüber vom Himmelsgewölbe purzeln würde. Dann könne er ja dann schauen, wie es bei diesen Menschen da unten zugehe. Dabei sahen sie einander vielsagend an.

Langsam aber sicher verleideten dem kleinen Stern die Bemerkungen, aus denen er doch nie klug wurde. So entschloss er sich ganz heimlich, einmal einen kleinen Ausflug auf die Erde zu unternehmen. Für dieses Vorhaben musste er jedoch einen günstigen Zeitpunkt abwarten. Er begann nun, jeden Morgen, wenn die Sterne das Himmelsgewölbe verliessen, so lange herumzutrödeln, bis er einer der letzten war, die durch das Sternentor schlüpften.

Eines Tages erzählte ein grosser Stern eine so spannende Geschichte, dass alle die Zeit vergassen und schliesslich mit Verspätung in aller Eile den Himmel verlassen mussten. In dem allgemeinen Durcheinander fiel es keinem auf, dass jemand fehlte, nämlich unser kleiner Stern.

Dieser hatte sich ganz winzig gemacht, und weil die Sonne auch schon ihre Strahlen auf die Erde zu senden begann, fiel der kleine Punkt am Himmel nicht weiter auf. Nun konnte das Abenteuer also beginnen. Mit klopfendem Herzen überlegte sich der kleine Stern, wie er am besten auf die Erde gelangen konnte. Er merkte bald, dass dies ganz einfach war. Schnell setzte er sich auf einen Sonnenstrahl, und hui sauste er in die Tiefe, dass ihm Hören und Sehen verging. Ein heftiger Stoss liess ihn für kurze Zeit das Bewusstsein verlieren. Aber bald kam er wieder zu sich, schaute sich erstaunt um und versuchte sich zu erinnern, was eigentlich los war. Ach ja, richtig, eigentlich müsste er sich auf der Erde befinden. Sofort war er wieder hellwach. Neugierig begann er sich umzusehen. Was es da nicht alles für komische Dinge gab! Zum Glück hatte er jeweils gut hingehört, wenn die anderen Sterne etwas über die Erde erzählt hatten. So erkannte er bald einige Sachen und musste oft lachen, weil er sich alles so anders vorgestellt hatte. Nun wollte er aber endlich die Menschen kennenlernen. Nachdem er sich einen Überblick geschaffen hatte, schwebte er zielbewusst einer Gruppe Häuser zu, von denen er wusste, dass sie die Wohnstätten der Menschen waren. Neugierig setzte er sich auf einen Fenstersims und guckte ins Innere des Hauses. Dann lachte er hell auf: Das waren also die Menschen! Sahen die komisch aus! Aber was machten sie denn? Es mussten wohl kleine Menschen sein, sogenannte Kinder. Sie sassen am Boden und türmten Steine aufeinander. Bald erschien ein grosser Mensch, wohl die Mutter, und redete mit den kleinen. Unterdessen entstand auf der Strasse plötzlich Lärm. Eine ganze Gruppe von Menschen, alle gleich angezogen, marschierte in Kolonnen im Gleichschritt hinter einem Mann her, der wohl der Anführer war. Ach, es gab ja noch so viel zu sehen und zu entdecken! Wissbegierig schwebte unser Stern von Fenstersims zu Fenstersims, setzte sich auf Bäume und Dächer, beobachtete und lauschte. Plötzlich merkte er, dass die Menschen ihre Haustüren verschlossen und Lichter in den Räumen anzündeten. Das waren also all die leuchtenden Punkte, welche ihn am Himmelsgewölbe immer so angezogen hatten. Langsam wurde es dunkel und still. Ganz allein sass der Stern auf einem Baum. Ob man ihn am Himmel vermissen würde? Jetzt müssten eigentlich seine Artgenossen langsam ihre Plätze einnehmen. Und tatsächlich, bald blinkte der erste helle Punkt am Himmel auf. Doch der kleine Stern sah nicht mehr, wie der Nachthimmel langsam seine Pracht entfaltete. Er war so müde, dass er bald einschlief und erst von den ersten Sonnenstrahlen wieder geweckt wurde. Weiter ging die Entdeckungsreise. O wie war dieses Leben doch spannend! So viel wollte der Stern noch entdecken. Jeden Abend schlief er erschöpft ein und freute sich auf den folgenden Tag. Als sich die erste Aufregung schliesslich etwas gelegt hatte und der Stern die Menschen schon recht gut kannte, merkte er plötzlich, dass etwas auf dieser Erde fehlte. Irgendetwas vermisste der kleine Stern. Doch was konnte das sein? Lange dachte er nach. Um ihn herum herrschte reger Betrieb. Alles war in Bewegung. Es gab schöne und weniger schöne Szenen. Das Leben schien farbig und aufregend, und doch: etwas hatten diese Menschen noch nicht gefunden, etwas ganz Wichtiges. Und weil er wissen wollte, was es war, machte er sich auf die Suche. Tagelang schwebte er umher und beobachtete das Leben auf der Erde noch genauer. Langsam begann ihn seine Entdeckungsreise aber zu ermüden. Immer wieder stiess er auf ähnliche Dinge. Ja, er wusste nun schon so viel, dass ihn das Herumschweben auf der Erde zu langweilen und zu bedrücken begann. Er merkte zudem voller Angst, dass seine Leucht- und Lebenskraft nachliess. Am Himmel hatte man sich gegenseitig jeweils Licht gegeben, doch hier war er alleine, und es gab kein Licht, von dem er etwas hätte bekommen können. Traurig, müde und enttäuscht verliess er schliesslich die Siedlungen und schwebte ziellos über der Landschaft umher. Musste er auf diese Weise kläglich sterben? Einfach erlöschen? War alles zu Ende? Ach, hätte er diese Reise nur nie angetreten. Was hatte er nun davon? Vielmehr als vorher wusste er nämlich nicht. Die anderen Sterne hatten ihm ja so viel von der Erde erzählt. Oh, wie sehnte er sich nach der Wärme und dem Licht seiner lieben Freunde. Wie unrecht hatte er ihnen getan, als er sie für langweilig und einfältig erklärt hatte. Doch diese Einsicht kam etwas spät, er war ein Opfer seiner Dummheit geworden.

Als er so niedergeschlagen und verzweifelt auf dem Dach einer Hütte sass, merkte er, dass sich ein Mann und eine Frau näherten. Von Menschen hatte er eigentlich genug, er wollte lieber in Ruhe nachdenken können. Schon erhob er sich, um davon zu schweben. Da sah er etwas Eigenartiges: Von dem Paar, das offensichtlich zu dieser Hütte kommen wollte, ging ein seltsames Licht aus. Gespannt beobachtete der Stern die beiden Wesen, die genau so müde zu sein schienen wie er. Als sie die Hütte betraten, setzte sich der Stern sofort in einen Türwinkel, um das rätselhafte Paar weiter beobachten zu können. Das Innere der Hütte war nur spärlich von einer kleinen Laterne beleuchtet. Doch das Schauspiel, das sich ihm nun darbot, liess ihn die ganze Ärmlichkeit, die da herrschte, vergessen. Es schien ihm, als würde er für sein ganzes Leid, für alle trüben Stunden, die er hier auf der Erde verbracht hatte, entschädigt. Es musste wohl etwa Mitternacht sein, als der Schrei eines kleinen Wesens die Nachtruhe durchbrach. Der Mann und die Frau sahen sich mit glänzenden Augen an. Dabei schien die Hütte zu leuchten, obschon die Flamme der Petrollampe nur spärliches Licht spendete. Ja, dieses Paar und ganz besonders das neugeborene Kind verbreiteten ein warmes, wunderbares Licht. Plötzlich wusste der Stern, was den Menschen fehlte: Dieses Licht war es, welches durch die Freude und die Liebe entstand. Die Leute auf der Erde hatten vergessen, dass sie es zum Leben brauchten. Ja, sie wussten nicht einmal, dass sie es in sich trugen und eigentlich nur anzünden mussten. Wie hatte er nur so blind sein können! Diese drei Menschen hatten es ihm klargemacht. Obschon sie arm zu sein schienen, besassen sie das ganze Leben, denn ihre Flamme war entzündet. Liebe und Freude umstrahlten sie wie ein Kranz. Glücklich bemerkte der kleine Stern, dass er durch dieses Licht auch seine eigene Leuchtkraft wieder zurückerhielt. Oh, wie fühlte er sich auf einmal wieder gut. Er räkelte sich wohlig. Dann hüpfte er voller Freude aufs Dach. Er musste einfach allen zeigen, wie froh und dankbar er für dieses Wunder war.

Hirten, welche in der Nähe lagerten, waren die ersten, welche diese sonderbare Erscheinung sahen und das Paar mit dem neugeborenen Kindlein fanden. Das Licht berührte auch ihre Herzen und erfüllte sie mit einem seltsamen, wunderbaren Gefühl.

Unser Stern hatte sich indessen in die Luft erhoben und vollführte einen richtigen Freudentanz. Dieser lockte natürlich viele Leute an, und alle, die sich der Hütte näherten, merkten, dass etwas ganz Besonderes geschehen war. Zudem wurden ihre Herzen von einer wundersamen Regung ergriffen. Ganz tief innen erwachte etwas, das lange Zeit geschlafen hatte. Überall erglommen ganz kleine Flämmlein der Liebe und der Freude. Augen begannen zu strahlen und Wärme erfüllte die Herzen.

Mit grossen Augen verfolgte der kleine Stern das Geschehen. Dieses bisschen Licht schien ein ganzes Stückchen Erde zu verwandeln. Es war unglaublich!

Plötzlich spürte der Stern, wie ihn eine Kraft erfasste. Eine Stimme ertönte in ihm: „Du hast den Menschen den Weg zum Licht gezeigt. Christus ist heute geboren, der die Menschheit aus der Finsternis führen wird. Wisse, da du dein Leben im Licht der Sterne leichtsinnig aufgegeben hast um Abenteuer zu erleben, musstest auch du dein Licht aus eigener Kraft wieder finden. Nun, da du es gefunden hast, sollst du wieder in deine Lichtheimat zurückkehren. Jedes Jahr sollst du aber als grosser leuchtender Stern am Himmel die Menschen daran erinnern, dass Christus für sie gekommen ist, um ihnen den Weg zu ihrem eigenen Licht zu weisen.“ Danach fühlte sich der Stern in einen Strudel gezogen. Als er wieder klar denken konnte, stand er am Himmelsgewölbe bei seinen Sternenfreunden. Er war aber nicht mehr so klein wie vorher. Gross und hell leuchtete er in stiller Freude am Firmament. Er wusste nun, was das Leben ausmachte: das Licht war es!

Von nun an war er nicht mehr der kleine Zuhörer. Vielmehr erzählte er von seinen Abenteuern auf der Erde. Dabei vergass er nie, seine wichtigste Botschaft mitzuteilen: Liebe und Freude durften im Leben nicht fehlen, denn sie waren das Licht, das die Herzen erleuchtete und das wahre Leben ausmachte.

Endlich schaffte ich es: alle meine alten Weihnachtsgeschichten wurden hervorgeholt. Die ältesten
waren noch mit der Schreibmaschine getippt. Sie stehen dir nun in überarbeiteter Form zur
Verfügung. Du kannst sie am Bildschirm lesen, herunterladen oder bei mir gegen den
Selbstkostenpreis von Fr. 15.- pro Exemplar (Ringheft) plus Porto in gebundener Form beziehen.